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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sich das Übereinkommen des gegenseitigen Schweigens nur auf die Kurszeiten?
    »Nein«, sagte er. »Auf keinen Fall.«
    »Du könntest es mir zurückgeben«, sagte die tiefere Stimme vom Knaake.
    »Ich will damit nicht anfangen«, sagte Abel. »Meine Mutter hat das ge… tut solche Dinge, und ich werde es nicht tun, verstehen Sie das? Ich will nur Ihre Hilfe. Helfen Sie mir, einen Job zu finden. Irgendetwas. Sie kennen Leute … andere Leute als ich. An der Uni … vielleicht … ich kann alles machen … irgendetwas machen … abends … alles, was später beginnt als sieben.«
    »Später als sieben?«, fragte der Knaake. »Warum?«
    »Das ist meine Sache«, sagte Abel, und Anna dachte: Um sieben gehen kleine Mädchen gewöhnlich zu Bett.
    »Du arbeitest doch jetzt auch nachts«, sagte der Knaake. »Deshalb schläfst du in meinem Kurs. Es ist schon okay, schlaf ruhig. Bei mir geht das. Aber nicht bei den anderen. Irgendwoher müssen die Noten kommen, in den anderen Fächern. Du kannst über die Leistungskursnoten in Deutsch letztlich nicht alles ausbügeln.«
    »Ich schätze, nein«, sagte Abel. »Und deshalb wäre es gut, nichtnachts zu arbeiten, sondern abends. Wenigstens abends. An der Uni … Gibt es keine Hiwi-Jobs, die auch ein Schüler machen kann? Papierkram lässt sich auch abends erledigen …«
    »Für so was musst du Student sein«, sagte der Knaake.
    »Ich besitze einen Studentenausweis.«
    »Das habe ich nicht gehört«, sagte der Knaake. »Ich frage mal rum. Ich verspreche dir, dass ich herumfrage. Mehr kann ich nicht machen. Aber das mit sieben Uhr abends solltest du dir überlegen. Es ist leichter, etwas für nachmittags zu finden.« Die Stimmen bewegten sich auf die offene Tür zu und Anna vertiefte sich in den Inhalt ihres Rucksacks. »Das weiß ich«, sagte Abel, »wenn es um nachmittags ginge, hätte ich längst …« Er verstummte.
    »Anna«, sagte der Knaake und strich sich verwundert durch seinen ergrauenden Backenbart. Er hatte etwas von einem alternden Walross im Wollpullover. »Was tust du noch hier?«
    »Ich … ich wollte noch mit Ihnen über die … Lektüreliste reden«, sagte Anna. »Ich …«
    Und dann redete sie eine Viertelstunde lang mit dem Knaake über die Lektüreliste und darüber, was man davon streichen konnte und was nicht, und hörte sich selbst nicht einmal zu, denn es war ihr völlig egal, welche Bücher sie vor dem Abi noch lesen würde oder lesen müsste oder nicht las. Es gab nur eine Geschichte, die sie wirklich interessierte. Ein Märchen. Und das stand auf keiner Liste.
    In der Mittagspause begann es zu schneien. Sanfte weiße Flocken, die schon seit einer Weile fielen, ohne dass jemand sie bemerkt hatte und die Anna an ihre Mutter erinnerten. Der Himmel war tief verhangen, eine grauweiße Schneewolkenwand presste die kalte Luft auf die Stadt hinunter. Anna saß auf der Heizung an der Glaswanddes Kollegstufenzimmers und wärmte ihre Hände an einem Kaffeebecher. Hinter ihr war der Großteil des Englischkurses 1 in irgendwelche Hefter und Ordner vertieft, eine drückende Stille hatte sich über das Kollegstufenzimmer gesenkt, um Viertel vor zwei würden sie eine Klausur schreiben. Das Leben schien aus Punktesammeln zu bestehen, Punktesammeln fürs Abi, wie Geldscheine in einer merkwürdigen Art von Monopolyspiel. Wenn Gitta darüber sprach, Gitta, die jetzt auch vertieft war in ihren Hefter, stellte Anna sich die Punkte vor: wie die Schneeflocken, die draußen so langsam fielen und die trotzdem so schwer zu fangen waren.
    Jetzt sah sie jemanden durch den Schnee gehen, direkt vor dem Kollegstufenzimmer: eine Gestalt in einer Militärjacke und mit einer schwarzen Strickmütze. Abel ging zu seinem Fahrrad. Bis eben hatte er draußen auf dem Flur gesessen, allein, und auch in einem Hefter gelesen, auch Abel Tannatek war im Englischkurs 1. Anna hatte zur gleichen Zeit Musik, sie würde als eine der wenigen Abitur in Musik machen, sie wartete auf keine Klausur. Nicht heute. Abel sah aus, als hätte er es plötzlich eilig. Anna sah auf die Uhr. Es war kurz nach halb zwei. Abel schloss sein Rad auf. Sie stellte den Kaffeebecher auf den Boden, schlüpfte in ihre Jacke und nahm ihren Rucksack, es dauerte nur Sekunden, dann war sie draußen. Der Schnee rutschte unter ihren Füßen weg. Sie rannte.
    Sie erreichte Abel, als er bereits auf seinem Rad saß und die Ohrstöpsel des Walkmans in einer eiligen Geste ausschüttelte, um sie zu entheddern. Sie musste sich

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