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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Kopf nach Abel an, als sie das dachte. »Meistens«, sagte sie. »Freitags nicht.«
    Die junge Frau nickte. »Sind Sie ihre Schwester?«
    »Nein«, sagte Anna. »Cousine. Ist sie schon losgegangen?«
    »Ja … ja, das ist sie«, sagte die Frau nachdenklich, und Anna spürte, dass sie genauso viele Fragen im Kopf hatte wie sie selbst. »Sie hat gesagt, sie muss noch nach Wieck raus«, sagte die Frau. »Sie muss . Ganz ernst. Sie meinte, sie müsste sich die Schiffe anschauen.Heute hat sie den ganzen Tag von Schiffen geredet. Es ging da um ein grünes Schiff mit gelbem Segel …«
    »Steuerrad«, sagte Anna. »Mit gelbem Steuerrad. Danke. Dann sehe ich mal, ob ich sie in Wieck einfangen kann.«
    »Ja, vielleicht treffen Sie da ihren Onkel«, sagte die Lehrerin. Onkel?, dachte Anna. »Der hat auch nach ihr gefragt. Warten Sie – kann es sein, dass eine ganze Menge Leute der kleinen Micha heute verschiedene Haustürschlüssel nachtragen?«
    »Kann sein«, sagte Anna. Sie beeilte sich, wieder auf Abels Rad zu steigen.
    Gitta fluchte lautlos zwischen zusammengebissenen Zähnen. Sie kam mit dieser Klausur nicht weiter. Die englischen Sätze bildeten Knoten vor ihren Augen und der tiefere Sinn dahinter war ihr abhandengekommen. Sie würde diese Klausur verpfuschen. Sie hatte keine Ahnung, was sie interpretieren sollte und wie – und, abgesehen davon, warum.
    Sie sah auf, suchte zwischen den anderen, die über ihre Blätter gebeugt saßen, einen Helm aus goldrotem Haar, fand ihn und lächelte. Mein Gott, sie hatte wirklich anderes im Kopf als Englisch. Das verdammte, beschissene Abitur! Sie brauchte eine Zigarette. Auch Hennes schrieb. Er sah nicht auf. Wenn sie ihn lange genug anstarrte, würde er ihren Blick vielleicht spüren und den Kopf heben. Wenn sie ihn lange genug auf eine bestimmte Art ansah, würde ihm warm werden, sie musste sich nur konzentrieren … Es war nicht Hennes, der aufsah. Es war jemand, der einen Tisch weiter saß. Tannatek. Er war beinahe zu spät zur Klausur gekommen, er hatte sich im allerletzten Moment an seinen Platz gesetzt und seitdem hektisch gekritzelt. Aber jetzt schrieb er nicht mehr, er sahsie an. Sie wusste nicht, was sie in seinem Blick lesen sollte. Seine Augen waren sehr blau. Es war keine Sorte Blau, die ihr gefiel. Sie waren eisig.
    Gitta machte ihre eigenen Augen schmal und hielt diesen Augen stand. Sie dachte wieder an Anna, an Annas Worte. Erklär mir den Kurzwarenhändler.
    Und plötzlich war es, als führten sie mit ihren Augen, mitten in der Englischklausur, ein stummes Zwiegespräch.
    Ich bin im Übrigen nicht blind, sagte Gitta. Ich meine, ich weiß nicht, was da läuft … zwischen Anna und dir … ich weiß nicht, was du dir versprichst. Aber irgendetwas willst du doch. Zu irgendetwas brauchst du sie, sonst hättest du nie mit ihr gesprochen.
    Lass mich in Ruhe, sagte Abel.
    Lass du Anna in Ruhe. Sie lebt in ihrer eigenen Welt. Manchmal beneide ich sie beinahe … Sie ist nicht wie wir, sie ist anders. So … verletzlich. Lass die Finger von ihr.
    Hallo? Bist du völlig übergeschnappt? Ich kenne sie nicht mal.
    Und sie kennt dich nicht. Genau das ist der Punkt.
    Was meinst du damit?
    Gitta seufzte. Ich habe es dir gesagt: Ich bin nicht blind. Ich weiß ein paar Dinge, die ich Anna nicht erzählen werde …
    Er hatte den Kopf wieder auf sein Blatt gesenkt, den Dialog abgebrochen. Hatte er wirklich begriffen, was ihre Augen gesagt hatten?
    Nach der Klausur stand sie mit Hennes und den anderen draußen und rauchte. Hennes’ Goldhaar kitzelte sie im Nacken, als er sich über sie beugte, um sein Feuerzeug weiterzugeben. Warum machte sie sich Gedanken um Anna? Anna hatte gesagt, sie hätte jetzt einen Studenten.
    »Hey«, sagte Hennes leise, »auf wessen Rad fährt unser polnischer Kurzwarenhändler da?«
    »Das … ist Annas Rad«, sagte Gitta genauso leise. Und, noch leiser, nur für sich selbst, fügte sie hinzu: »Einen Studenten? Erzähl mir nichts, mein Kind.« Sie trat die halb gerauchte Zigarette in einem plötzlichen Anfall von Ärger aus. »Scheiße«, sagte sie, etwas zu laut. »Das geht nicht gut aus.«
    »Was?«, fragte Hennes.
    »Ach, nichts«, meinte Gitta leichthin und lachte, »die Klausur. Das Abitur. Irgendetwas. Was geht schon gut aus im Leben? Hast du noch eine Zigarette für mich?«

5
    Rainer
    Im Sommer lagen in Wieck die Boote dicht an dicht in der Ryckmündung und der Hafen war überschwemmt mit Seglern und Touristen. Jetzt, im Februar, war

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