Maerchenerzaehler
der Hafen beinahe leer. Nur die Fischerboote diesseits des Flusses lagen da wie immer, weniger malerisch als reparaturbedürftig. Der Fisch, den sie hier herauszogen, ging nach Hamburg und Dänemark, und der Fisch, den der Fischladen verkaufte, kam größtenteils tiefgekühlt in nächtlichen Lastwagenladungen aus Holland oder Finnland, es schien eine Art globaler Fischaustauschbörse zu geben, womöglich horizonterweiternd. Wenn man ein Lastwagenfahrer war. Oder ein Fisch. Die roten Fahnen an den Stangen für die Netze, die in großen Bündeln am Ufer standen, hingen schlaff im Tanz der Flocken. Das Geländer der alten Zugbrücke, die nicht alt war, sondern nur nachgebaut, war frisch gestrichen vom Weiß des Schnees. Zur Rechten, diesseits der Brücke, führte ein Radweg zum Strand und nach Eldena, zu Gittas Neubaugebiet mit seiner blinden Glaswand, die das Meer nicht sah.
Anna lehnte das Rad an den Zaun eines winterschläfrigen Restaurants, das sich in einem seltsamen Zwischenzustand zwischen offen und geschlossen befand. Sie ging am Fluss entlang, vorbei an den Fischerbooten, und hielt nach einer rosa Daunenjacke Ausschau.
Und dann sah sie sie. Sie tauchte hinter einem Stapel Kisten auf und stand einen Moment unschlüssig da, und Anna sah, was sie betrachtete. Da lag eine Jacht, eine einzige, verlassene Jacht, die den Winter nicht an Land verbrachte. Sie war groß, klobig und dunkelgrün. Micha schüttelte sich ihre Zöpfe aus dem Gesicht und schien mit jemandem an Bord der Jacht zu sprechen, schien etwas zu rufen, das Anna nicht hörte, sie war zu weit weg. Dann kletterte sie an Bord der Jacht. Anna begann zu rennen. Sie rutschte aus und fiel, Schnee auf Fischschuppen, Schnee auf Dreck, Schnee in ihren Augen – sie kam wieder hoch und rannte weiter. Etwas stimmte nicht. Abel hatte nichts davon gesagt, dass sie Micha auf einem Schiff suchen sollte. Das grüne Schiff mit den weißen Segeln gehörte ins Märchen, nicht in den Jachthafen von Wieck. Für Sekunden fürchtete sie, das Schiff würde einfach ablegen und vor ihren Augen den Fluss hinunterfahren, hinaus auf den langsam zufrierenden Bodden, hinein in eine Wand aus Schnee, und sie würde Micha nie wiedersehen.
Das Schiff fuhr nirgendwohin. Anna blieb direkt davor stehen. Es war niemand an Bord zu sehen, aber sie hörte Stimmen von hinter der Kajüte. Michas Stimme und die eines Erwachsenen. Die Kälte trug die Worte zu Anna hinüber, klar und deutlich wie auf Papier.
»Sie haben kein gelbes Lenkrad«, sagte Micha.
»Nein«, sagte die Männerstimme. »Sollte ich ein gelbes Lenkrad haben?«
»Ich dachte«, sagte Micha wieder. »Ich dachte nur. Abel hat das erzählt. Gehört das Schiff Ihnen ganz allein?«
»Du kannst ruhig Du zu mir sagen«, sagte die Männerstimme. »Ja, es gehört mir. Wenn du möchtest, kann es auch dir gehören.Wir können zusammen darauf hinausfahren. Im Sommer. Falls du Schiffe magst?«
»Oh, ich mag Schiffe unglaublich sehr«, antwortete Micha. »Ich weiß bloß nicht, ob Abel es erlauben würde. In meinem Märchen, da fahre ich auch auf einem Schiff, und es ist fast wie dieses. Aber nur fast, glaube ich. Sie … haben keinen Seelöwen hier?«
»Seelöwen? Nein«, sagte der Mann verwundert.
»Abel hat gesagt, auf dem grünen Schiff ist ein Seelöwe. Er hat es geholt. Oder gebaut? Das weiß ich nicht mehr.«
»Abel sagt wohl eine Menge«, meinte der Mann.
»Ja«, sagte Micha. »Abel ist mein Bruder.«
»Ich weiß, Micha«, sagte der Mann. »Ich weiß.«
»Wie … woher?«, fragte Micha. »Und woher wissen Sie, wie ich heiße?«
»Ich habe auf dich gewartet«, erwiderte der Mann. »Ich warte schon sehr, sehr lange, weißt du. Ich wusste, dass du eines Tages kommst und mich findest. Vielleicht kannst du doch mit mir hinausfahren, wenn der Sommer kommt. Ich war sehr allein ohne dich.«
In seiner Stimme lag die Traurigkeit aller wartenden, einsamen Männer der ganzen Welt. Diese Art von Traurigkeit gefiel Anna nicht. Sie schmeckte gar nicht nach Traurigkeit. Anna ging ein Stück weiter am Ufer entlang, sodass sie um die Kajüte herumsehen konnte. Der Mann saß auf einer der hinteren Bänke. Micha stand in ihrer rosa Jacke da und sah ihn mit großen Augen an, sie verstand nicht, was er meinte. Aber Anna konnte sehen, dass der Mann Micha leidtat. Sie war die Art von kleinem Mädchen, der einsame Männer leidtun. Sie war die Klippenkönigin. Sie hatte den melancholischen Drachen geheilt.
»Du weißt nicht, wer ich bin,
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