Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
ihren Wein, Magnus las seine Zeitung, Anna ihre Gedanken. Schließlich faltete er die Zeitung zusammen.
    »Was hast du auf dem Herzen?«, fragte er.
    »Nichts«, sagte sie. Er sah sie an. Sie zuckte die schmalen Schultern. Sie war viel schmaler als er, ein Ast im Wind. »Die Welt«, sagte sie.
    »Ja«, sagte Magnus. »So siehst du aus, als hättest du die Welt auf dem Herzen.«
    »Warum sind manche Leute so und andere anders? Warum sind manche glücklich und andere unglücklich? Warum haben manche Leute Geld und andere – ich weiß.« Sie seufzte. »Das sind die Fragen eines Kindes.«
    »Du könntest die Antworten studieren«, meinte Magnus, das Weinglas in der Hand. »Philosophie. Oder nein. Wirtschaftswissenschaft.«
    »Ich brauche ein Attest«, sagte Anna. »Für den Musikkurs heute. Zwei bis vier Uhr, ungefähr.«
    Magnus hob eine Augenbraue. Er fragte nichts.
    »In deinem Alter habe ich auch …«, begann er und verstummte.
    »Danke«, sagte Anna und stand auf. »Magnus?«, fragte sie in der Tür.
    »Ja?«
    »Der Wein ist gekippt.«
    Der nächste Tag verwandelte den weißen Schnee in braunen Matsch. Anna fragte Bertil, ob er nachmittags Zeit für Mathe hätte. Gitta war mit Hennes wegen Physik verabredet.
    »Leider auch mit ein paar anderen«, sagte sie zu Anna.
    Abel kam zu spät und schlief in Erdkunde, weil es an diesem Tag keinen Deutschkurs gab. Mittags saß Anna alleine auf der Heizung im Kollegstufenzimmer und sah Abel draußen mit dem Knaake sprechen. Sie verstand nicht, was sie sagten. Sie war nicht bei der Sache, bei keiner. Sie hatte den Anschluss an die Realität irgendwo im Treppenhaus eines abrissreifen Plattenbaus verloren, es war, als läge der Tränenschleier noch immer über allem, was sie sah. Der Knaake nahm seine runde Brille ab und kratzte sich damit am Kopf.Eine einzelne Schneeflocke landete in seinem beinahe grauen Haar. Und plötzlich setzte Anna sich auf.
    Der Leuchtturmwärter. Der Leuchtturmwärter sah genauso aus wie der Knaake. Die Brille, der Wollpullover, der Backenbart; alles stimmte. Abel hatte den Lehrer des Deutschkurses 1 in sein Märchen hineingeschrieben. Er war an Bord gegangen, um der kleinen Königin zu helfen. Der Knaake hatte versprochen, sich nach einem Job umzusehen. Der Knaake gehörte zu den Guten. Sie lächelte beinahe, aber eben nur beinahe. Die Welt der Märchen war einfach: Gut und Böse, Kalt und Warm, Sommer und Winter – schwarzes Schiff und weiße Segel.
    In der Mittagspause ließ sie Gitta stehen und wanderte alleine zum Bäcker, zu dem, der weiter weg war. Was wollte sie hier? Die angestrengt fröhliche Reklame für lila verpackte Brötchen mit IKEA-Namen jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie hatte keinen Hunger. Neben dem Bäcker gab es eine Dönerbude mit Stehtischen, eine trotz der Mittagszeit verlassene Dönerbude, und irgendwie fühlte sich Anna zu der Bude und dem einsam frierenden Verkäufer hingezogen. Sie stellte sich mitten im Schneematsch an einen der Tische und trank lauwarmen Kaffee, der noch schlechter war als der aus der Maschine im Kollegstufenzimmer. Sie malte mit dem Finger Muster in den Kaffeefleck eines Vorgängers.
    »Anna«, sagte jemand. »Anna, es tut mir leid.«
    Sie zuckte so sehr zusammen, dass sie die Kaffeetasse umstieß, und als sie aufsah, spürte sie, wie der lauwarme Kaffee in ihren Ärmel rann. Es war Abel.
    »Wie … wie bitte?«, fragte sie.
    Er fischte eine Serviette aus dem Plastikserviettenhalter und gab sie ihr, um den Kaffee aufzuwischen.
    »Es tut mir leid, dass ich dich rausgeschmissen habe«, sagte Abel. »Ich wusste ja nicht, dass Rainer … Micha hat es mir erzählt. Es war richtig, dass du sie nicht allein gelassen hast. Ich … ich wollte nicht, dass … es geht niemanden etwas an, wie wir wohnen, und … es tut mir leid, wirklich.«
    Sie hatte Abel noch nie stottern hören. Sie lächelte und fiel mit einem schmerzhaften Knall zurück in die Realität, der Tränenschleier zerbrach, und sie spürte, dass ihr Ärmel wirklich sehr nass war.
    »Ist schon okay«, sagte sie. »Du hast ja recht. Aber ich weiß nicht, was du hast – wegen der Wohnung –, bei mir ist es nicht halb so ordentlich.«
    »Hat Micha eine Hausführung mit dir veranstaltet?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Keine Angst, die verwesenden Leichen unter dem Bett habe ich nicht gesehen.«
    Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Den gestohlenen Geldkoffer und den geheimen Kernreaktor auf dem Kleiderschrank hoffentlich

Weitere Kostenlose Bücher