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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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auch nicht?«
    »Nein«, sagte Anna. »Allerdings habe ich mich gefragt, was die Goldbarren und das Maschinengewehr in der Besteckschublade zu suchen haben.« Es tat gut, Unsinn zu reden. Besser als lauwarmer Kaffee. Es tat gut, mit Abel über belanglose Dinge wie Kernreaktoren auf dem Kleiderschrank zu lachen.
    »Das mit der Geschichte …«, sagte sie schnell, »wir hätten nicht weiterlesen dürfen.«
    »Das hättet ihr nicht«, sagte Abel, aber er lächelte dabei. »Rainer«, sagte er dann und lächelte nicht mehr. »Michas Vater. Er … war eine Weile nicht in der Gegend … jedenfalls habe ich ihn eine Weile nicht gesehen. Und jetzt … du bist ihm begegnet. Du verstehst, warum ich nicht will, dass er auftaucht, oder?«
    »Ich denke, ja.«
    »Denk noch etwas weiter, und dann nimm das Ergebnis im Quadrat, und du hast die ungefähre Wahrheit. Er ist bekannt in der Gegend … in den billigen Kneipen … Michelle war ein Ausrutscher. Seine Freundinnen sind eher um die fünfzehn, sechzehn. Wenn überhaupt.«
    »Micha ist sechs. Das ist etwas anderes.«
    »Eben«, sagte Abel und zerknüllte eine Papierserviette in der Faust.
    »Meinst du wirklich, er würde … das ist eine ziemliche Anschuldigung. Wenn es für so was Beweise gäbe, würde er in den Knast wandern …«
    Abel sah von der Serviette auf. In seinen Augen glühte blaues Eis. »Würde«, sagte er. »Gäbe. Die Leute reden. Ich weiß ein paar Dinge. Ich weiß ein paar Dinge sehr genau. Als ich …« Er brach ab. »Würdest du es darauf ankommen lassen?«
    Anna schüttelte den Kopf. »Aber es gibt doch Ämter für so was, Gerichtsbeschlüsse … über das Sorgerecht … wenn er sie nicht sehen darf, darf er sie eben nicht sehen … es gibt doch Institutionen, die Kinder schützen!«
    »Anna«, sagte Abel sehr, sehr leise. »Du hast nichts begriffen.«
    »Nein?«
    »Ich bin noch nicht achtzehn. Ich habe keine Art von Sorgerecht. Wenn Michelle wirklich nicht wiederkommt, gehört Micha ihm. Wie ein Stück … Strandgut. Wie ein streunender Hund. Wie …«
    »Wie ein verlorener Diamant«, sagte Anna.
    »Und deshalb ist es wichtig, dass du den Mund hältst«, flüsterte Abel. »Verstehst du das? Wir leben mit unserer Mutter zusammen in dieser Wohnung, alles ist in Ordnung, wir haben keine Probleme.Verstehst du das? Verstehst du das? « Er hatte sie am Arm gepackt, er klang so verzweifelt, als wäre er selbst ein hilfloses Kind. Und irgendwo in Annas Hinterkopf tauchte, nur für Sekundenbruchteile, der Gedanke auf, dass er das irgendwann gewesen war und dass Rainer in derselben engen Wohnung gelebt hatte, und sie schob den Gedanken weit, weit, weit weg, bis auf die dunkle Seite des Mondes.
    »Ich verstehe«, flüsterte sie. »Ich war nie bei euch. Und sollte ich doch da gewesen sein … dann habe ich mich wirklich gut mit Michelle unterhalten. Sie und meine Mutter, sie hören die gleiche uralte Musik …«
    Abel ließ ihr Handgelenk los. Es schien ihm plötzlich unangenehm, dass er sie angefasst hatte. Er sah sich um, aber da war niemand, der sie gesehen hatte. Der einsame, frierende Dönerverkäufer lehnte in der Bude und spielte mit seinem Handy, versunken in eine Welt aus Kurznachrichtenzeichen.
    »Ich hole sie jetzt ab«, sagte Abel.
    »Du gehst nicht zu Mathe?«, fragte Anna.
    »Ich hole Micha ab«, wiederholte Abel. »Heute Nachmittag … gegen fünf … werden wir draußen in Wieck sein. Manchmal gehen wir für einen Kakao ins Utkiek. Das Café vorne an der Mole, du weißt schon. Wenn wir zu viel Geld haben.« Er grinste. »Irgendwo muss man ja hin mit dem Zeug. Und da gibt es ein grünes Schiff, das weiterfahren muss … am Horizont ist schon wieder eine neue Insel aufgetaucht …«
    »Gegen fünf«, sagte Anna.
    Bertils Existenz fiel ihr erst nach Mathe ein.
    »Anna«, sagte er mit einem Lächeln in seinem zu schmalen,ernsten Gesicht. »Du siehst nicht aus, als hättest du irgendetwas begriffen.«
    »Doch«, murmelte Anna. »Einiges. – Was?«
    »Den Rest können wir ja bei mir durchsprechen«, sagte Bertil. »Ich kann versuchen, dir ein paar Sachen zu erklären, wenn du mir erklärst, wie man im letzten Beweis darauf kommen soll, dass … du siehst mich an, als wäre ich ein Geist.«
    »Ja«, sagte Anna. »Oh nein. Shit! Bertil, ich kann heute nicht.«
    Er zuckte die Schultern, seine Schultern waren genauso schmal wie ihre. Er war zu groß für diese Schultern. Sein dunkles Haar hatte die Angewohnheit, sich an Stellen zu kringeln,

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