Maerchenerzaehler
bisweilen verschwand er, doch immer wenn die kleine Klippenkönigin dachte, dass das Meer zu groß und sie zu klein und verloren war, tauchte er wieder auf. Nachts schliefen die kleine Königin und Frau Margarete in der Kajüte. Dort gab es ein breites Bett, ausgelegt mit lauter Eisbärfellen. Dort, wo die Eisbären gelebt hatten, sagte der Seelöwe, schmolz jetzt das Eis wegen des Klimawandels, den die Menschen gemacht hatten. Da waren die Eisbären an Land gegangen und Politiker geworden, doch vorher hatten sie ihre Felle ausgezogen, damit man sie nicht erkannte. Der Seelöwe hatte die Felle nur aus dem Meer zu fischen brauchen …
Einmal ging die kleine Königin nachts hinaus an Deck, um die Sterne zu betrachten. Sie fand das Sternbild des Großen Wagens; doch sie fand auch einen Apfelbaum und eine Stute und ein Himmelbett.
›Hier seid ihr alle!‹, sagte sie erstaunt. ›Wie schön ihr seid! Die Nächte hier auf dem Meer sind so wunderschön …‹
›Ja, sie sind schön‹, flüsterte der Seelöwe aus dem schwarzen Nachtmeer. ›Aber sie sind auch kalt. Sie können dich mit ihrer Schönheit zu Eis gefrieren, wenn du sie zu lange ansiehst.‹
Da kroch die kleine Königin schnell zurück zwischen die Eisbärfelle. Am Morgen tanzte die frühe Sonne rot und orange auf den Wellen und die kleine Klippenkönigin betrachtete die Wellen lange. ›Vielleicht‹, sagte sie zu ihrer Puppe, ›wäre es nett, auch eine Weile neben dem Schiff herzuschwimmen, wie der Seelöwe es tut? Die Wellen sind so schön …‹
›Ja, sie sind schön‹, sagte der Seelöwe und streckte seinen Kopf aus einer der gischtbekrönten Wellen. ›Aber sie sind auch gierig. Sie können dich verschlingen, wenn du ihnen folgst.‹
›Ach!‹, rief die kleine Königin. ›Gibt es denn gar nichts, das nur schön ist und nicht gefährlich?‹
›Vielleicht finden wir auf unserer Reise etwas‹, antwortete der Seelöwe. ›Aber zu viel Zeit können wir nicht mit der Suche vertrödeln. Sieh dich um, kleine Königin. Es gibt auch etwas, das nur gefährlich ist und nicht schön.‹
Da sah sich die kleine Königin um, und sie sah, dass das schwarze Schiff näher gekommen war.
›In der letzten Nacht bin ich dorthin geschwommen‹, sagte der Seelöwe, ›denn ein Seelöwe ist viele Male so schnell wie ein Schiff. Da stand ein Jäger im roten Mantel am Steuer, rot wie Blut. Er hatte einen blonden Schnauzbart und Augen vom gleichen Blau wie du, kleine Königin. Und auf seinen rechten Ärmel war ein Diamant gestickt. Das Ziel seiner Suche: dein Herz.‹
›Aber was will er damit?‹, rief die kleine Königin.
›Es besitzen‹, antwortete der Seelöwe. ›Das ist genug. Er will seine Schönheit betrachten und wissen, dass nur seine eigenen gierigen Hände es berühren können.‹
›Woher weißt du das?‹, fragte die kleine Königin. ›Das denkst du dir nur aus!‹
›Ich wünschte, es wäre so‹, sagte der Seelöwe. ›Aber der Jäger, der uns folgt, ist kein Unbekannter auf den Meeren. Er hat schon viele Juwelen geraubt. Eine Weile bewahrt er sie in seinem dunklen Haus auf, auf seiner eigenen Insel, weit fort. Dann verlieren sie irgendwann ihren Glanz, und er wird es müde, sie zu besitzen und zu berühren. Und er wirft sie zurück ins Meer. Dein Herz aber ist der größte aller Juwelen. Er sucht es schon lange.‹
›Wie heißt er, dieser Jäger im roten Mantel?‹, fragte die kleine Klippenkönigin mit einem Zittern. ›Wie kann ich ihn nennen, wenn ich von ihm träume?‹
›Wenn du ihm begegnest‹, sagte der Seelöwe, ›wird er sagen, du sollst ihn Vater nennen.‹
Am Morgen des vierten Tages sahen sie ein Licht über das Meer gleiten, das immer wiederkehrte.
›Das ist ein Leuchtturm‹, sagte der Seelöwe.
›Oh, lass uns dort hinfahren!‹, rief die kleine Königin. ›Vielleicht hat der Leuchtturmwärter eine Tasse Kakao für uns!‹
Der Seelöwe drehte den Kopf nach dem schwarzen Schiff. Es war ein gutes Stück zurückgefallen. Zwei seiner schwarzen Segel schienen lose zu sein, als hätte jemand nachts die Taue durchgebissen. Jemand, der lautlos herangeschwommen und mit krallenbewehrten Flossen an Deck geklettert war …
›Gut‹, sagte der Seelöwe. ›Für eine Tasse Kakao reicht unser Vorsprung.‹
Bald darauf vertäuten sie das grüne Schiff an der Insel des Leuchtturmwärters und die kleine Königin ging mit Frau Margarete an Land. Sie machte ein paar Schritte und musste lachen, weil ihr Gang so schwankend geworden
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