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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Quietschen der Haustür und kurz darauf Schritte im Flur. Anna saß ganz still, und sie sah, dass auch Micha sich bemühte, nicht zu atmen. Es kam ihr beinahe vor, als stünden sie nebeneinander an Bord eines grünen Schiffes mitten zwischen den schönen, gefährlichen Wellen eines blauen Wintermeeres. Rainer Lierski, dachte Anna. Er hat doch keinen Schlüssel? Haben wir die Tür offen gelassen? Wie viel Zeit ist vergangen, seit wir in der Wohnung sind? Sicher mehr als genug, um zu Fuß von Wieck hierherzukommen, es ist nicht weit …
    Die Tür zum Flur öffnete sich.
    Es war nicht Rainer Lierski. Es war Abel. Natürlich war es Abel. Anna atmete auf und kletterte hinter Micha vom Bett. Aber als sie vor ihm stand, waren Abels Augen kälter denn je. Sie waren so kalt wie die Winternacht auf dem Schiff in seinem Märchen.
    »Was tust du hier?«, fragte er.
    »Ich … ich habe Pfannkuchen gemacht … zum … Mittagessen«, stotterte Anna, »ich …« Und plötzlich wurde sie sich bewusst, dass sie noch immer die beiden beschriebenen Blätter in der Hand hielt. Abel folgte ihrem Blick und riss sie ihr aus der Hand.
    »Micha kann sich ganz gut mittags ein Brot schmieren«, sagteer. »Das tut sie sonst auch. Ich habe dich nicht gebeten, hierherzukommen.«
    »Ich … nein … ich wollte nicht«, begann Anna. »Wie war Englisch?«
    »Anna hat ein bisschen vorgelesen, aber ich war schuld«, sagte Micha. »Ich habe gesagt, sie soll das machen. Es war sehr gemütlich, weißt du, und du könntest Anna vielleicht mal zeigen, wie man Pfannkuchen macht, sodass sie nicht anbrennen …«
    »Anna möchte jetzt gehen«, sagte Abel. »Sie hat ein eigenes Zuhause und dort eine Menge zu tun.« Er berührte Anna nicht. Er schob sie nicht aus dem Zimmer, in Richtung Haustür. Er sah sie nur an. Sie hob hilflos die Hände und ging. Abel ließ sie nicht aus den Augen, während sie im Flur in Jacke und Stiefel schlüpfte. »Dein Rad steht unten vor dem Haus«, sagte er. »Ich bin damit gekommen.«
    »Mein … Rad? Es war doch abgeschlossen?«
    »Zahlenschloss«, sagte Abel. »Die Sorte kann jeder öffnen. Du hast ja das Geld, dir bei Gelegenheit ein besseres zuzulegen.«
    Sie machte einen letzten Versuch, schon auf der obersten Stufe der grauen, scharfkantigen Treppe. »Abel, ich habe Micha doch nur nach Hause gebracht! Du hast mich darum gebeten.«
    »Ich habe dich um gar nichts gebeten«, sagte er hart. Sie hatte unrecht gehabt. Er konnte auch ohne die Mütze Furcht einflößend wirken. »Das war deine Idee. Und jetzt lass uns in Ruhe. Danke für die Sache mit dem Schlüssel.«
    Nie hatte das Wort »danke« so auf Annas Wangen gebrannt. Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Sie rannte die Treppen hinunter, ohne stehen zu bleiben. Unten hatte Frau Ketow ihre Tür einen Spaltbreit geöffnet. Anna warf die Außentür hinter sich zu. Sieheulte. Scheiße, sie heulte tatsächlich. Auf der Suche nach einem Taschentuch fand sie den Blisterstreifen mit den weißen Tabletten. Vielleicht sollte sie eine nehmen, einfach so. Sie drückte eine Tablette aus der Folie und steckte sie in den Mund. Sie schmeckte bitter. Anna spuckte sie wieder aus, weiße Tablette in weißem Schnee, wie weißes Papier, das auf Buchstaben wartete, auf Worte, auf die Fortsetzung eines Märchens. Er hatte ihr Rad mit dem nutzlosen Zahlenschloss abgeschlossen. Sie schloss es auf und fuhr nach Hause, ihr Kopf leer, weißes Papier, weißer Schnee, weißes Eis auf weißem Weg, weiße Segel, weißes Rauschen.
    Wenn sie die Augen schloss, sah sie einen weiß gestickten Diamanten auf einem roten Mantelärmel. Oder war es Rainer Lierskis tätowierter Oberarm?

6
    Rosenmädchen
    An diesem Abend konnte Anna nicht einschlafen. Sie zog sich wieder an und ging noch einmal hinunter ins Wohnzimmer, wo Magnus in seinem Sessel saß und Zeitung las, auch er ein Schlafloser, einer von der ständigen Sorte. Sie betrachtete seine große, breite Gestalt in dem großen, breiten Sessel, sie waren beide eins, er und der Sessel, ein Klotz im Raum, unverrückbar, unnachgiebig, fest. Früher hatte sie gedacht, ihr Vater könnte sie vor allem beschützen. Vor allem auf der Welt. Kinder sind dumm.
    Neben Magnus auf dem kleinen Beistelltisch mit den Einlegearbeiten, Relikt irgendeiner Reise in den arabischen Raum, standen eine Flasche Rotwein und ein Glas. Anna nahm sich ein zweites Glas aus dem Schrank und goss es halb voll. Dann setzte sie sich in den zweiten Sessel. Eine Weile tranken sie schweigend

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