Maerchenerzaehler
Klicken hinter ihm.
Anna trat gegen die Reifen ihres Fahrrads, weil es nichts anderes gab, das sie hätte treten können. Aus dem Erdgeschoss drang Kindergeschrei, und Anna war sich beinahe sicher, dass Frau Ketow sie schon wieder beobachtete, aber es war ihr vollkommen egal. Wer war bei Abel gewesen? Es geht mich nichts an, sagte sie sich. Es geht mich überhaupt nichts an. Ich mische mich ein und er hat mich nicht darum gebeten. Er hatte recht: Sie gehörte nicht hierher. Aber warum hatte er sie im Kursraum Deutsch, im Zeitungspapierturm, in den Arm genommen? Sie schob ihr Fahrrad bis zurück zur Wolgaster Straße, schob es den Radweg an der Wolgaster entlang, nur um weiter gegen Dinge treten zu können, falls sie welche fand, die sich eigneten. Erst an der nächsten Ampel stieg sie auf. Sie saß auf ihrem Rad, die Hand auf dem gelben Blindensignalkasten der Ampel, und starrte die vorbeirasenden Autos feindselig an – da legte sich eine andere Hand über ihre.
Sie fuhr herum.
»Bertil!«
Er saß auf seinem Rad genau neben ihr, nur ausbalanciert durch die Hand, die über ihrer lag. Er fuhr also nicht überall mit dem Auto seiner Eltern hin. Er lächelte. Seine Brille war wieder auf die Nase heruntergerutscht.
»Wo man dich überall trifft«, sagte er. »Warst du beim Querflötenunterricht?«
Anna musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Und wo warst du?«
Er antwortete ihr genauso wenig wie sie ihm.
»Wenn ich dich etwas frage, was mich nichts angeht …«, begann er.
»Dann werde ich dir nicht antworten«, sagte Anna und zog ihreHand weg, sodass er beinahe aus dem Gleichgewicht kam. Die Ampel wurde grün und sie fuhren beide los.
»Du spionierst mir nach«, sagte Anna. »Oder?«
»Gibt es denn etwas auszuspionieren? Vielleicht passe ich nur auf, dass du keine Dummheiten machst.«
»Bertil Hagemann, lass mich in Ruhe«, sagte Anna. »Ich brauche keinen Aufpasser.«
»Oh doch«, sagte Bertil, »mehr, als du denkst.«
Und dann trat er in die Pedale und ließ sie hinter sich. Er war sportlicher, als sie gedacht hatte.
Die nächsten Tage lagen unter einem Damoklesschwert. Anna versuchte, wütend zu bleiben, so wie sie es gewesen war, als sie nach ihrem Rad getreten hatte. Es ging nicht. Sie sah das Schwert über Abels Kopf hängen, an dem dünnen, so leicht zerreißbaren Faden, und manchmal sah er sie jetzt an, das war neu, und in seinen Augen stand Angst. Sie werden denken, dass ich es war. Es ist unmöglich, zu beweisen, dass man etwas nicht kann … Er schlief nicht mehr in den Kurszeiten. Vielleicht war er nachts nicht mehr unterwegs, weil er glaubte, dadurch noch verdächtiger zu werden. Oder vielleicht konnte er nicht mehr schlafen, nicht einmal mehr im Deutschkurs, weil er nirgends mehr sicher war. Wenn die Tür zu einem Kursraum sich öffnete, weil jemand zu spät kam, zuckte Abel zusammen, als erwartete er, die Polizei stünde davor. Das Schwert hing tief. Seine Spitze war aus dem Blei einer Kugel geschmiedet, die Rainer Lierskis Nacken durchbohrt hatte wie die Reißzähne eines Wolfes.
Die Zeitung brachte nichts Neues über Lierski.
Am Mittwoch stand Anna am Fenster des überfüllten Kollegstufenraums, schwirrend von der Aufregung vor der Physikklausur, die sie nicht schrieb. Sie merkte, dass Abel neben ihr stand.
»Beinahe wäre ich erleichtert, wenn sie endlich kämen«, sagte er leise. »Wenn sie endlich vor der Tür stünden und eine Erklärung verlangten, wenn sie wissen wollten, wo ich am Samstagabend war … damit ich es ihnen sagen kann. Damit ich ihnen sagen kann: Ich war nicht dort, ich habe keine Waffe, ich kann nicht schießen, ich habe ihn nicht umgebracht. Aber sie kommen nicht, sie geben mir keine Chance, mich zu verteidigen …«
Sie spürte seine Hand auf ihrer, spürte, dass er ihr etwas gab. Ein Stück Papier.
»Viel Glück in Physik«, sagte sie.
»Ich schreibe nicht mit«, sagte Abel.
Sie warf ihm einen Blick zu. Er sah weg. Natürlich, niemand konnte eine Klausur schreiben, wenn ein Schwert über seinem Kopf hing. In einem unsinnigen Teil ihres Hirns wurde sie unendlich böse auf Lierski. Er hatte es tatsächlich geschafft, zu verhindern, dass Abel die Punkte zusammenbekam, die er so dringend fürs Abi brauchte.
Sie sah sich das Papier in der nächsten Stunde an. Es war zu einem Umschlag gefaltet und sorgfältig mit Tesafilm zugeklebt sowie mit einem nicht ganz runden roten Kreis bemalt, der vielleicht ein Siegel darstellen sollte. In einer Ecke stand mit
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