Maerchenerzaehler
du das weißt.«
Anna sah auf die Uhr. »Oh nein, jetzt hätte ich beinahe vergessen, dass ich Gitta versprochen habe … ich muss noch mal los«, sagte sie. »Danke für den Kaffee.«
Linda schüttelte den Kopf, während Anna ihren Wintermantel wieder anzog. »Ich habe ihn doch überhaupt noch nicht gemacht.«
»Dann tu das«, sagte Anna. »Das Wetter ist genau richtig für heißen Kaffee. Ich bin nicht lange weg.«
Sie wusste, dass Linda am Fenster stand und ihr nachsah, wie sie mit dem Rad durch den langsam vereisenden Schnee schlingerte. Sie hatte immer ein zweites Kind haben wollen, aber es hatte nicht geklappt, alle Schwangerschaften bis auf die mit Anna hatten sich in nichts aufgelöst, jedes der möglichen Kinder war vom Beinahe-Sein ins Nicht-Sein zurückgekehrt, ehe sie es wirklich hatte begreifen können, aber doch spät genug, um den Verlust zu fühlen. Sie hatte Angst um Anna, vom ersten Schritt an hatte sie Angst gehabt, und Anna wusste es. Das machte die Dinge schwierig. Linda versuchte, ihre Angst nicht zu zeigen, sie überspielte sie, indem sie Anna nicht kontrollierte, sie nichts fragte, ihr nichts befahl. Indem sie es gut fand, dass Anna nach England wollte, gut, dass sie auswärts studieren wollte – aber am liebsten hätte sie Anna in eine kleine, weich gepolsterte Tasche direkt neben ihrem Herzen gesteckt, wo sie warmund sicher war und wo ihr nichts geschehen konnte. Wie Abel mit Micha, dachte sie und war erstaunt über diesen Gedanken. Abel, du bist ja wie Linda.
Sie klingelte drei Mal, ehe er öffnete. Er trug ein T-Shirt mit verblichener Aufschrift, und sein Haar war völlig durcheinander, mehr als sonst, so als hätte er geschlafen oder geduscht und sich eben erst abgetrocknet. Zwei der winzigen Schnittwunden direkt neben seinem Auge waren wieder aufgegangen und glänzten feucht-rot.
»Kannst du schießen?«, fragte Anna ohne jede Einleitung.
»Was? Nein«, sagte Abel. »Brauchst du jemanden, der schießen kann?«
»Du bist dir sicher, dass du es nicht kannst?«, fragte Anna. »Und du hast auch keine Waffe?«
»Nein!«, wiederholte Abel.
Sie dachte, er würde einen Schritt zurücktreten, um sie hereinzulassen. Er trat einen Schritt vor, in den Hausflur. Er lehnte die Tür an. Er fror in seinem dünnen T-Shirt, sie sah es.
»Wieso?«, fragte er.
»Wenn das stimmt, bist du sicher«, sagte Anna. »Er ist erschossen worden. Rainer. Meine Mutter kennt jemanden aus der Gerichtsmedizin. Er ist erschossen worden, Genickschuss, keine Schlägerei, oder nicht nur.«
Langsam, ganz langsam machte sich etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht breit.
»Himmel«, sagte er, »nie war ich so froh, dass jemand erschossen worden ist.«
Eine Weile standen sie sich im Flur gegenüber, in der Kälte, schweigend. Dann wich das Lächeln aus Abels Gesicht. »Aber ich kann ihnen nicht beweisen , dass ich nicht schießen kann«, sagteer. »Oder? Es ist unmöglich, zu beweisen, dass man etwas nicht kann.«
Anna lachte beinahe. »Wieso solltest du das beweisen müssen?«
»Sie werden denken, dass ich es war«, sagte Abel leise. »Trotz allem.« Sie sah seinen vorsichtigen Blick in Richtung Wohnungstür.
»Micha?«, fragte sie. »Soll sie nicht hören, worüber wir reden? Hast du ihr nicht gesagt, dass ihr Vater …?«
»Micha ist auf einem Schulausflug«, sagte Abel schroff. Er verschränkte die Arme vor der Brust, die Hände auf den Oberarmen, als könnte er die Kälte dadurch abhalten, zu ihm durchzudringen. Auf seinem linken Oberarm glänzte eine runde rote Stelle, etwas wie eine Brandwunde. Sie sah frisch aus. Sie sah nach einer Zigarette aus. Er sah ihren Blick und legte seine Hand über die Wunde.
»Abel …«, begann sie. »Wollen wir hier im Flur stehen bleiben?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Du willst nach Hause gehen. Du gehörst nicht hierher. Du wirst dich erkälten.«
»In eurer Wohnung ist es wärmer.«
»Anna«, sagte er eindringlich und noch leiser als zuvor. »Ich habe jetzt keine Zeit.« Er lauschte noch immer in Richtung Wohnung.
»Du hast Besuch«, sagte sie.
»Jemand, dem ich Geld schulde«, sagte Abel.
»Ich kann dir …«
»Bitte«, sagte Abel, »bitte geh jetzt.«
Er sah für einen Moment so aus, als zögerte auch er, in die Wohnung zurückzukehren. Als wollte er am liebsten tatsächlich für immer hier im Hausflur stehen bleiben. Doch schließlich strich er sich das zerwühlte Haar glatt und wandte sich ab. Die Wohnungstür schloss sich mit einem leisen
Weitere Kostenlose Bücher