Maerchenerzaehler
Bleistift ANNA. Sie begriff erst, als sie die Seite glatt strich und die orangefarbenen Filzstiftherzen sah. Die Botschaft war von Micha. Abel hatte sie nicht geöffnet.
»Libe ANNA«, stand da. »Du muS balt wida kom DamiT das MEchen weita get.
Deine MICHA.
Libe ANNA 2
Fragen die mann nicht weis: 1 Wo is eina wen er dot is??
2. Is der rote Jeger jez weg oder komen andere??
Dritens kanst du machen das Abel keine Anst mehr hat libe Anna deine Micha.«
Anna nahm einen Stift, um unten auf den Zettel eine Antwort zu schreiben. Liebe Micha, schrieb sie. Aber sie wusste nicht weiter. Sie konnte keine von Michas Fragen beantworten.
Am Freitag nach der Schule stellte Anna ihr Rad am Markt ab und wanderte ziellos die Einkaufsstraße entlang. Ihre Beine wollten sie in Richtung Mensa tragen, aber sie ließ ihre Beine nicht, sie zwang sie in die entgegengesetzte Richtung, zwang sich selbst, so zu tun, als betrachtete sie Schaufenster, als suchte sie etwas, als hätte ihr Hiersein einen Zweck. Es hatte keinen. Sie wollte nicht nach Hause. Am Strand, wohin sie gewöhnlich in solchen Fällen fuhr, lagen vor dem gefrorenen Meer zu viele Gedanken im Sand, dort war es zu einsam. Und vielleicht hofften ihre eigensinnigen Beine ja, sie werde sie doch noch zur Mensa gehen lassen, um zufällig Abel und Micha dort zu treffen, im kleinen Saal oben, bei einer Portion überfahrenem Hund, oder in der Cafete unten, vor einer Tasse Kakao mit fünf Strohhalmen.
Sie ging über den verschneiten Fischmarkt hinter dem Rathaus, auf dem seit Langem kein Fisch mehr verkauft wurde, und sah den Kindern zu, die auf dem eckigen Brunnenbecken Stiefelschlittschuh liefen, mitten zwischen den metallenen Statuen der Fischer. Sie könnte, dachte sie, drüben auf der anderen Seite des Platzes eine Tafel Schokolade im Ökoladen kaufen, nur um etwas zu tun, was äußerlich Sinn ergab. Als sie die drei Stufen des Ökoladens hochstieg, schwamm das Winterbild des gefrorenen Brunnens noch immer in ihrem Kopf, ein Nachhall von farbigen Kinderschneeanzügen und Gelächter – und plötzlich fand sie in diesem Bild eine rosa Daunenjacke. Sie drehte sich um. Natürlich wäre da keine Daunenjacke, und wenn eine da wäre, gehörte sie sicher einem Kind, das Anna nicht kannte, und – jemand kam vom Brunnen aus auf sie zugerannt. Es war kein Kind.
Es war jemand in einer offenen grünen Militärjacke und mit einem fliegenden grauen Schal. Jemand ohne Mütze, der Schnee in seinen blonden Haaren hatte. Sie dachte an das Bild auf dem Schulhof, sie dachte: Er fliegt, er fliegt so wie damals. Und dann war er bei ihr und riss sie mit sich die Stufen hoch in den Hauseingang des Ökoladens, hinein zwischen Auslagen von halb gefrorenem Lauch und leuchtend orangefarbenen Kürbissen. Irgendwo hinter ihm sah sie jetzt die rosa Jacke wieder, dort bei den anderen Kindern auf dem Eis.
»Sie … sie haben ihn«, keuchte Abel. Er hatte auch Schnee auf der Jacke, Schnee auf dem Pullover, Schnee in den Falten des grauen Schals, als wäre er mit den Kindern auf dem Eis gewesen und der Länge nach hingefallen. Er war völlig außer Atem und seine Augen lachten. Das Schwert. Das Schwert war nicht mehr da.
»Wen?«, fragte Anna. »Wen haben sie? Wer?«
»Den Typen, der Michas Vater erschossen hat.« Er merkte, dass er sie noch immer am Ärmel festhielt, und ließ los, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Es … es ist so gut wie sicher. Ich habe mich umgehört … morgen steht es vielleicht in der Zeitung. Mit einem von den dreien an diesem Abend hätte Rainer sich nicht anlegen sollen, sie haben nicht nur eine Knarre in seiner Wohnung gefunden, sondern ein ganzes Arsenal. Sieht aus, als hätte erdamit gehandelt. Auf jeden Fall haben sie ihn jetzt wegen illegalen Waffenbesitzes, er hatte sich aus dem Staub gemacht nach der Sache mit Rainers Leiche, aber dann ist er doch zu seiner Wohnung zurück, der Typ von der Kneipe hat ihn gesehen, und jetzt haben sie ihn. Und …« Er brach ab.
»Das … das ist wunderbar«, sagte Anna und lächelte. »Hat er gestanden?«
»Ich weiß nicht«, sagte Abel. »Aber selbst wenn nicht, das muss er sein, oder?«
Sie nickte langsam. »Das muss er sein.«
Micha kam jetzt über den Platz, ihre türkise Schultasche schlenkernd, und sie trug noch etwas, eine Tüte, die nach Buchladen aussah. Sie versuchte, mit der Tüte und der Schultasche zu winken, verlor beides und sammelte es wieder ein.
»Was macht ihr da im Gemüse?«, fragte
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