Maerchenerzaehler
Moment, als sie es glaubte, wurde das Blut des Wolfes zu einem Faden, der sich selbst zu weichem rotem Stoff verwebte. Der Faden quoll aus der Wunde, Meter für Meter, und die Falten des Stoffes bedeckten das Rosenmädchen ganz, hüllten es ein und wärmten es, bis es die Kälte der Winternacht nicht mehr spürte. Eine Stoffbahn schlang sich um sein Gesicht, und als es sie beiseiteschob, da war der Wolf verschwunden.
Den Rest der Nacht über nähte das Rosenmädchen. Ihre Nadel war ein abgebrochener Rosendorn. Es war genug Stoff da, um warme Überkleider für alle zu nähen – für das Rosenmädchen und die kleine Königin und den Leuchtturmwärter und Frau Margarete. Nur die blinde weiße Katze, die ständig schlief, brauchte keine warmen Kleider. Denn sie war viel zu uninteressiert an der Welt, um zu frieren.
Als der Morgen kam, standen sie alle in rotem Samt an Deck, und der Leuchtturmwärter sah durch seine Brille und rief: ›Da vorne sind wieder zwei Inseln! Wir können uns ein wenig die Beine an Land vertreten!‹
Wann, dachte die kleine Königin, hatte er eigentlich die Brille wiedergefunden? War sie nicht wegen dieser Brille zurück zum Schiff gegangen und beinahe vom roten Jäger eingefangen worden?
Sie schob den Gedanken beiseite und sah zu, wie der Leuchtturmwärter und das Rosenmädchen das Schiff an einer der Inseln vertäuten. Die Insel war voller Leute. Sie winkten und riefen alle durcheinander.
›Woher kommt der Mond?‹ ›Was ist der Sinn des Lebens?‹ ›Warum kann man Joghurtbecher zum Auskratzen nicht umkrempeln?‹
›Das‹, erklärte der Seelöwe, ›ist die Insel der Fragenden, kleine Königin.‹
Die kleine Königin wollte an Land springen, mitten zwischen die Fragenden, doch sie landete in ihren Armen. Sie hoben sie hoch über ihre Köpfe und riefen ihr weiter ihre Fragen zu, und sie begannen, sie zu schütteln, damit sie endlich antwortete:
›Wohin geht einer, wenn er tot ist?‹ ›Wann endet die Angst?‹ ›Wo sind all die Socken, die die Waschmaschine nicht wieder ausspuckt?‹
›Helft mir!‹, rief die kleine Königin, die auf keine der Fragen eine Antwort wusste, völlig verängstigt. ›Sie werden mich in Stücke reißen!‹
Da tauchte der silbergraue Hund an Land zwischen den Fragenden auf. Er biss nach links und biss nach rechts und die Fragenden wichen zurück. ›Wieso tut er das?‹, fragten sie. ›Woher kommt er? Ist er böse oder gut?‹
Der silbergraue Hund schnappte die kleine Königin wie einen Vogel aus der Luft. Plötzlich saß sie auf seinem Rücken, und er rannte durch die Schneise, die er sich freigebissen hatte, zurück zum Ufer. Kurze Zeit später befand sie sich wieder an Bord. An Land wogte die Masse der Fragenden noch immer hin und her.
›Legt ab!‹, rief der Seelöwe aus den Wellen. ›Rasch! Zu viele Fragen sind nicht gut!‹
Da stießen sie das Schiff vom Ufer ab und nahmen Kurs auf die zweite Insel. Nur einer der Fragenden schaffte es, mit einem tollkühnen Sprung das Schiff zu erreichen und über die Reling zu klettern. ›Nehmt ihr mich mit?‹, fragte er. ›Segelt ihr zum Festland? Wie sieht das Festland aus?‹
›Halt den Mund‹, sagte die weiße Katze. ›Wie soll man denn schlafen, wenn einer so viel fragt.‹
Auf der Insel, auf die sie nun zuhielten, war am Ufer ebenfalls ein Menschenauflauf zu sehen. Man sah, dass die Leute dort etwas riefen, doch die Sätze kamen nicht bei der Insel der Fragenden an.
›Würde mich gar nicht wundern‹, knurrte der Leuchtturmwärter, ›wenn das da drüben die Insel der Antwortenden wäre.‹
Als sie sich mitten zwischen den Inseln befanden, geriet das Boot in eine Stromschnelle und drehte sich ein paarmal wild im Kreis, und alle fielen durcheinander. Schließlich gelang es dem Leuchtturmwärter, wieder Kurs auf die zweite Insel zu nehmen, und der Seelöwe reckte seinen Kopf aus einer Welle.
›Dies ist die Stelle, wo alle Rufe ins Meer fallen‹, sagte er. ›Weil sie nicht weiter reichen. Ich habe die Wörter unter Wasser gesehen, sie liegen dort zu Tausenden auf dem Grund des Meeres, lauter Wracks von Sätzen, die nie angekommen sind, Antworten von der einen und Fragen von der anderen Seite …‹
›Wie traurig!‹, rief die kleine Königin. ›Ein Friedhof voller Wörter!‹
›Manche werden von den Fischen gefressen‹, sagte der Seelöwe. ›Und dann bekommen sie die seltsamsten Namen. Minkwal und Mondfisch, Zitteraal und Quastenflosser …‹
›Hoffentlich lassen uns die
Weitere Kostenlose Bücher