Maerchenerzaehler
etwas anderes behauptet. Aber heute – heute wollten wir doch feiern, Micha, nicht wahr?«
Er stand auf und zog seine Jacke an. »Dann feiern wir auch. Wir werden … wir werden irgendetwas Besonderes tun … Wir …« Erbrach ab. Hinter seinem Lächeln ragte die bedrohliche Silhouette eines schwarzen Schiffes hervor.
Ich muss ihn ablenken, dachte Anna. Ich muss dieses Schiff verschwinden lassen, ehe es zu nahe kommt.
»Ich weiß, was wir tun«, sagte sie und stand ebenfalls auf. »Wir gehen Eis essen. Also, falls ihr noch Platz für ein Eis habt, nach dem Kakao.«
»Platz schon«, sagte Micha, bereits auf dem Weg nach draußen. »Wir haben noch gar nicht Mittag gegessen. Aber kann man denn im Winter Eis essen?«
»Ein Eis ist kein Mittagessen«, sagte Abel. »Wir sollten etwas Anständiges essen.«
»Ach was«, meinte Anna. »Steck mal den Erzieher weg. Ein Eis ist ein hervorragendes Mittagessen, wenn man feiern will. Früher, als ich so alt war wie du, Micha, da sind wir immer Eis essen gegangen, wenn wir etwas zu feiern hatten. Gerade im Winter. Mein Vater hat gesagt, im Sommer Eis essen kann ja jeder, und dann haben wir uns beim Italiener am Markt ein Eis geholt und sind damit durch die Einkaufsstraße gegangen und haben uns gefreut, wenn die Leute komisch guckten. Wir haben noch ein Bild, dass meine Mutter gemacht hat, mit dem langen Arm, da sind wir alle drei im Schnee drauf, mit unserem Eis. Und wenn uns nach dem Eisessen kalt war, haben wir uns zu Hause vor den Kamin …« Sie brach ab.
»Rosenmädchen«, sagte Abel leise. »Ihr müsst schrecklich glücklich sein auf eurer Insel.«
»Nein«, erwiderte Anna. »Es gibt zu viele Dornen. Ich habe angefangen, sie zu spüren. Wie die kleine Königin …«
Der Italiener am Markt war etwas verwundert darüber, dass sie Eis zum Mitnehmen haben wollten. Aber nur etwas. Vielleicht erinnerte er sich daran, dass vor vielen Jahren ein kleines Mädchen häufiger mit seinen Eltern hier gewesen war, einem großen, breiten Vater, der einen vor allem auf der Welt beschützen konnte, und einer sehr leisen Mutter, die man beinahe nicht sah. Ob er die Rosenranken unter ihrer Kleidung gesehen hatte?, dachte Anna. Die Blütenblätter? Und vielleicht sogar die Dornen?
Micha machte einen Versuch, vier Kugeln zu ergattern, aber Abel sagte: »Zwei«, und schließlich: »Von mir aus drei«, und Anna bezahlte, ohne dass er widersprach, und endlich standen sie alle mit ihren Eistüten auf dem verschneiten Marktplatz, über den ein schneidend kalter Wind fegte. Abel zog seinen grauen Schal enger und schüttelte den Kopf. Dann grinste er. Und dann begannen sie, die Einkaufsstraße entlangzugehen, einfach so, ohne Sinn und ohne Ziel, genau wie Anna zuvor, aber in die entgegengesetzte Richtung und auf eine völlig andere Art. Sie gingen nebeneinander her, ohne etwas zu sagen, und Micha rannte voraus, um sich bei jedem Schaufenster zu überlegen, was sie kaufen würde, wenn sie später reich wäre, und zwischen den einzelnen Schaufenstern tropfte sie mit ihrem türkisfarbenen Schlumpfeis bunte Punkte in den Schnee. Es waren eine Menge anderer Leute in der Einkaufsstraße unterwegs, Leute, die Räder schoben und Kinderwagen, Leute, die Taschen trugen und Hunde ausführten, aber die Leute verschmolzen zu einer Art zäher, anonymer Masse und waren unwichtig und sehr klein. Irgendwann war das Eis gegessen und verschwunden, aber sie gingen einfach weiter, langsam, ohne Eile, und Anna fragte sich, ob sie am Ende der Einkaufsstraße auch weitergehen würden, immer weiter und weiter geradeaus, bis zum Ende der Welt, und ob vielleicht dort ein blaues Meer läge, wo ein grünes Schiff auf sie wartete.
Sie dachte daran, wie sie das allererste Mal mit Abel gesprochenhatte, im Kollegstufenraum, wie er auf der Heizung gesessen und bedrohlich gewirkt hatte, und wie sie sich niemals hatte vorstellen können, dass es möglich wäre, einfach so schweigend neben ihm eine Einkaufsstraße entlangzugehen und zu denken, dass für den Moment alles gut war.
Als sie in ihren Gedanken so weit gekommen war, merkte sie, dass ihre Hand in seiner lag, in der linken mit dem heilen Handgelenk. Es war ihr unbegreiflich, wie das hatte geschehen können, ohne dass sie es gespürt hatte, und sie wusste nicht einmal, wer wessen Hand genommen hatte; ihre Hände schienen sich einfach in der Mitte getroffen zu haben. Es war eine natürliche Fortsetzung dessen, was an diesem Tag geschah. Aber sie hatte Angst, ihre
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