Maerchenerzaehler
tauchte ein Kopf auf, der Kopf des Seelöwen. Sie wollte die Arme ausstrecken, um ihn an Bord zu ziehen. Da erhob sich der Seelöwe aus dem Wasser und machte so etwas wie einen Satz – er wirbelte in einem Regen aus Tropfen durch die blasse Nachtluft –, und im nächsten Moment stand neben ihr an der Reling des Schiffs der Wolf. Aber nein, sie hatte sich geirrt, es war der silberne Hund mit den goldenen Augen – aber nein, aber nein, es war auch kein Hund. Es war ein Mensch. Er war Abel und war doch nicht Abel. Seine Augen waren verkehrt, seine Augen waren golden. Er trug Schwarz, aber nicht den schwarzen Böhse-Onkelz-Pullover, den sie so hasste, und auch keine schwarze Jeans. Er trug ein gebügeltes Hemd, das nicht zu ihm passte, und eine Stoffhose, er trug Schwarz wie auf einer Beerdigung. Sie wollte ihn fragen, wessen Beerdigung es war und ob er von dort kam oder später dorthin gehen würde, doch ehe sie ihn fragen konnte, hatte er sie in seine Arme gezogen, es war wie ein seltsames Ballett.
An Deck lagen die weißen Segel, die der rote Jäger mit seinem Degen zerschnitten hatte, Anna sah, dass jemand begonnen hatte, sie zu flicken, vermutlich sie selbst, das Rosenmädchen, das Nähfäden aus seinen Haaren machte. Sie spürte den roten Samt auf der Haut, den sie zu Kleidern vernäht hatte. Sie spürte, wie der Stoff an ihrem Körper hinabglitt. Sie war nackt. Einen Moment stand sie so, nackt im Mondlicht, doch sie fror nicht. Sie löste die Knöpfe seines schwarzen Hemdes, es war ganz einfach, so als zöge man sich selbst aus, und auch der schwarze Stoff glitt zu Boden und traf sich dort mit dem roten Samt, schwarz und rot wie Nacht und Blut. Sie sah Abel an. Sie versuchte zu lächeln. Sie hatte ein wenig Angst.
Die runde Verbrennung auf seinem linken Oberarm glänzte wie ein zweiter Mond – oder wie ein Auge.
»Sieh nicht dorthin«, flüsterte er, und dann zog er sie hinab aufs Deck, zwischen die weißen Segel, die sich von selbst um sie schlossen wie ein Zelt. Es war ganz dunkel in dem Zelt, es gab nichts zu sehen, nur zu tasten und zu fühlen, zu schmecken und zu hören. »Es ist ein Traum«, flüsterte Anna.
»Es ist eine Zeitblase im Märchen«, flüsterte Abel. »Das hast du doch selbst gedacht.«
In einem Traum, in einem Märchen, muss nichts erklärt werden, und alles ergibt sich von selbst. In dieser Nacht wusste Anna alles und begriff alles und war mit allem vertraut, und einmal dachte sie an Gitta und musste lachen, weil Gitta gar nichts begriff, sondern nur redete. Das Zelt aus Segeln wurde zu einem Kokon und bewegte sich im Rhythmus der Wellen über das Deck, rollte hin und her, ein Kunstwerk von Christo und Jeanne-Claude, eine Verpackung, deren Inhalt niemanden etwas anging. Einmal griff Anna in Blut, sie wusste nicht, wessen Blut es war, vielleicht war es ihres, vielleicht stammte es aus der Wunde an Abels Schläfe, oder konnte es eine Erinnerung sein, das Blut einer dritten Person? Nein, dachte sie, es ist niemand hier. Nur wir beide. Niemand kann zu uns.
Und der Kokon, das Kunstwerk, das Zelt, rollte weiter über das Deck, rollte über die Reling und versank mit denen, die sich darin befanden, in den eisigen Fluten des nächtlichen Meeres. Die weiße Katze, die an Deck lag, schüttelte stumm den Kopf über alles, was sie gesehen hatte.
Als Anna erwachte, war es fünf Uhr früh, und sie war außer Atem. Die weiße Katze, dachte sie plötzlich – war die Katze nichtblind? Sie setzte sich im Bett auf und merkte, dass sie zitterte. Ihr Bett schien unendlich und sie war darin sehr, sehr allein.
»Sieh dir bloß unseren polnischen Kurzwarenhändler an«, sagte Gitta am Montag und sah aus dem Fenster. »Wenn er weiter so dasteht, wird er einschneien. Ich begreife diesen Menschen nicht. Er ist seit morgens da, aber er war nicht in Englisch, er hat die ganze Zeit da draußen gestanden mit seinen Stöpseln in den Ohren.«
»Weißes Rauschen«, sagte Anna.
Gitta warf ihr einen Blick zu. »Wie?«
»Vielleicht hat er seinen Tagesumsatz noch nicht zusammen«, sagte Hennes und lachte. Er strich sein rotblondes Haar zurück und gab Gitta einen freundlichen Schubs. »Physik ist gelaufen und Mathe morgen ist die letzte Kursarbeit vor dem Abi … für mich jedenfalls … Sollten wir nicht feiern? Morgen Abend … man könnte ihn fragen, ob er was zu rauchen hat. Nichts Hartes. Oder verkauft er bloß Tabletten?«
»Er ist Kurzwarenhändler«, antwortete Gitta leise und legte eine
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