Maerchenerzaehler
Finger auch nur einen Millimeter zu bewegen, um ihn nicht zu erschrecken. Micha war weit vorausgelaufen wie ein kleiner Hund, jetzt kam sie zurück, sah Abel und Anna an, sah ihre Hände an und grinste, und Anna dachte, dass er jetzt seine Hand wegziehen würde, ganz bestimmt, aber er zog sie nicht weg, er drückte die ihre ganz kurz und sehr fest, und sie drückte zurück. Wer hatte eigentlich den Schnee auf der Straße golden angemalt? Micha rannte wieder davon, sie sahen sie mit dem Finger etwas in den Dreck auf einer Scheibe malen, dann kicherte sie und hüpfte weiter voraus, ein Gummiball mit einem Kunstpelzkragen und fliegenden blonden Zöpfen.
Sie blieben vor der bemalten Scheibe stehen, es war die Scheibe zu einem China-Imbiss, verziert mit einem aufgeklebten roten Drachen. Micha hatte sie unterhalb des Drachens mit großen Schreibschriftbuchstaben verziert.
KüsT eUCh.
Abel sah Anna an. Anna sah Abel an.
»Sie ist die kleine Königin«, sagte Abel.
»Einer Königin muss man gehorchen«, sagte Anna.
Abel nickte ernst. Aber jetzt gehen wir natürlich trotzdem weiter, dachte Anna. Und wir vergessen, was an der Scheibe steht. Es ist schon fast vergessen. Da zog Abel sie in den Hauseingang neben der Scheibe, ganz plötzlich, neben eine Glastür mit einem weiteren roten Drachen und einer Öffnungszeitentafel, in den Geruch von heißem Fett und Glutamat, und küsste sie. Verdammt, dachte Anna, ich bin beinahe achtzehn, und ich habe noch nie jemanden geküsst. Nicht richtig. Seine Lippen waren kalt wie Schnee, aber jenseits der Lippen lag die Wärme von samtenem rotem Stoff, Stoff auf dem nächtlichen Deck eines Schiffes. Sie spürte seine Zunge, die nach ihrer tastete, und dachte an den Wolf. Und wenn es wahr ist, dachte sie, wenn das Märchen wahr ist? Ein Genickschuss und ein tödlicher Biss in den Nacken. Alles stimmt. Und wenn ich einen Mörder küsse? Und wenn? Und wenn schon. Ein Mörder, ein Wolf, ein Vater, ein Unschuldiger, ein Märchenerzähler. Sie legte ihre Hände an den rauen, kalten Stoff der alten Militärjacke und erwiderte seinen Kuss. Sie hatte die Augen längst geschlossen, sie sah den roten Drachen an der Tür nicht mehr und nicht den Hauseingang, sie befand sich an Deck eines Schiffes weit draußen im Meer. Sie hörte die Wellen gegen die Reling schlagen, sie spürte die Brandung unter ihren Füßen. Ach, wenn man doch die Schaumkronen zu Stoff verspinnen könnte … Auf seiner Zunge, in seinem Mund waren alle diese Worte, alle Worte, die er gesagt hatte, alle Worte des Märchens. Und da war kein Geschmack von Vanilleeis oder Kakao oder Zigaretten, sie schmeckte die Worte selbst, sie schmeckte das Salz des Meerwassers und das Blut des Wolfes, und hinter den Worten den Winter. Und hinter dem Winter gab es einen dritten Geschmack, den sie erst nach einer Weile entdeckte: den Geschmack der Angst. Erhatte Angst, und er hielt sie nicht fest, er hielt sich an ihr fest, einen Moment lang war es ihr völlig klar.
Märchenerzähler, dachte sie, wohin segelt das Schiff, auf dem wir stehen? Wohin führt das Märchen? Wer ist auf dem schwarzen Schiff? Wird es noch mehr Blut geben, das in die Ritzen zwischen diesen Decksplanken fließt?
Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst, hatte sie gesagt.
Oh doch, hatte Bertil gesagt. Mehr, als du denkst.
Sie wanderten auf dem Stadtwall zurück, der im Sommer von den Blüten hoher, alter Kastanien gesäumt wurde. Im Winter wuchs nur Schnee auf den Kastanien. Sie hielten sich noch immer an den Händen. Eine Weile ging Micha zwischen ihnen, und sie ließen sie an ihren Armen hoch in die Luft fliegen, als wäre sie ein noch viel kleineres Kind.
Als sie bei Annas Fahrrad vor der Sparkasse am Markt standen, trat jemand mit einer offenen Lederjacke und einem dunkelblauen Wollpullover heraus. Der Knaake. Anna erwartete wieder, dass Abel seine Hand aus ihrer ziehen würde, doch er tat es nicht. Er nickte nur kurz und der Knaake nickte zurück, und Micha sagte etwas zu laut: »Wer war das?«
»Der Leuchtturmwärter«, antwortete Anna. Und dann fiel ihr plötzlich etwas ein. Die weiße Katze. »Michelle«, sagte sie leise zu Abel, während Micha am Treppengeländer turnte und nicht zuhörte. »Kann es sein, dass sie an Bord gekommen ist?«
»Wer weiß«, sagte Abel.
»Die weiße Katze, die nichts von der Welt wissen will und die ganze Zeit über schläft … Ist sie wieder da, Abel? Hat sie sich gemeldet?«
Abel schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist nur
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