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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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du. Weil du in letzter Zeit so … sie sagt, du bist so anders.«
    »Irgendwann erkläre ich es euch«, sagte Anna. »Aber dieser Abend ist ein völlig normaler Kneipenabend mit Gitta und den anderen. Er hat nichts mit irgendetwas zu tun.«
    Doch Anna und Magnus täuschten sich beide.
    Sie trafen sich beim Mittendrin gegenüber vom Dom. Das Mittendrin war eine der wenigen Raucherkneipen der Stadt. In dem winzigen Vorraum, der durch einen schwarzen Vorhang abgetrennt war, blinkte der Zigarettenautomat, und Anna hatte immer das Gefühl, eine Bühne zu betreten, wenn sie durch den Vorhang ins Innere der Kneipe trat. Magnus hatte erzählt, früher hätte es einen Tisch gegeben, der aus einer ausrangierten schartigen Holztür bestand, und die Sessel wären bequemer gewesen. Seit Magnus’ Zeiten war das Mittendrin ein Dutzend Mal neu gestylt und gestrichen worden, aber die einzig wirkliche Veränderung war, dass es dort seit dem Rauchverbot mehr Raucher gab. Man konnte drinnen die Luft nicht nur schneiden, sondern wieder zusammenfügen, ohne dass jemand den Schnitt bemerkte. Sie bestand zu achtzig Prozent ausZigarettenqualm, zu achtundzwanzig Prozent aus dem Geruch von Cocktails, schwarzen Ledersofas und leicht angestrengter Coolness und zu zwei Prozent aus Qualm, der nicht von Zigaretten stammte. Es war dunkel, und Anna war sich nicht sicher, ob das an der Abwesenheit von Licht oder der Anwesenheit des Qualms lag, der das Licht nicht durchließ. Gitta blätterte glücklich rauchend in der schier unendlichen Cocktailkarte.
    »Sex on the beach«, sagte sie.
    »Bei diesem Wetter?«, fragte Hennes.
    »Das ist der Cocktail, den ich trinke, du Nase«, sagte Gitta.
    Bertil saß vor einem Bier und versuchte, lässig zu wirken, was ihm nicht gelang, und Frauke warf Anna einen Blick zu, der sie dafür verfluchte, dass sie Bertil angeschleppt hatte. Anna zuckte mit den Schultern und bestellte einen Wodka.
    »Du magst gar keinen Wodka«, sagte Gitta. »Trink mit uns einen Cocktail, mein Kind. Sie haben hier die irrsten Sachen, ich such was aus, was zu dir passt, irgendwas Schönes mit vielen Früchten … immerhin feiern wir Mathe …«
    »Lass sie doch trinken, was sie will«, sagte Bertil.
    »Verstehe«, meinte Gitta und warf Frauke einen Blick zu. »Du hast Bertil als deine Leibgarde mitgebracht. Nein, Bertil, jetzt guck nicht so beleidigt, das war ein Witz, entspann dich. Also, wenn wir mit diesem Abi fertig sind …«
    Anna lehnte sich zurück und sah Gitta dabei zu, wie sie wild gestikulierende Zukunftspläne schmiedete, dabei rauchte und etwas trank, das aussah wie ein Zwischending aus Palmeninsel und Swimmingpool. Gleichzeitig versuchte sie, noch etwas näher an Hennes zu rücken. Es verwunderte Anna selbst, wie sehr sie Gitta mochte und wie wenig Gitta tatsächlich von der Welt wusste, obwohl sie immerso tat. Das Gefühl einer seltsamen Nachsicht breitete sich in ihr aus, schloss Frauke und Hennes und auch Bertil mit ein, sie saß da und hörte sie reden und hörte nicht zu, sie sah ihnen zu und sah durch sie hindurch, es war wie ein Film. Sie saß mit ihrem Wodka außerhalb des Films und war tausend Jahre alt. Keiner von ihnen hatte je eine Insel im Meer versinken sehen, keiner von ihnen hatte die Splitter eines halben Schranks voll Geschirr aus einer Wunde gesucht, keiner war je im grauen Treppenhaus der Amundsenstraße 18 gewesen. Die Erkenntnis traf Anna wie der Knall eines Schusses: Es sind die anderen, dachte sie, die in einer Seifenblase leben. Nicht ich.
    Sie redete mit ihnen, ohne sich selbst zu lauschen, redete über belanglose Dinge, sie sah, wie die Gläser sich leerten und wieder füllten, mit anderen Farben, mit anderen blütenartigen Früchten, sie gab den Joint, den Hennes herumgab, unangetastet weiter, sie sah die Zeit verstreichen und war doch nicht da. Sie war auf einem Schiff, sie war auf dem Meer, sie ging mit Abel zwischen den verschneiten Kastanien den Stadtwall entlang. Irgendwann merkte sie, dass Bertil kein Bier mehr trank, sondern mit Frauke einen Cocktail teilte, in dem zwei Strohhalme steckten, und sie dachte, dass das gemein war, weil er vielleicht falsche Schlüsse zog und Frauke Bertil nicht ernst nahm, so wie keiner Bertil ernst nahm. Und sie fragte sich kurz, ob Bertil eigentlich den Joint mitgeraucht hatte. Vermutlich – um cool zu sein. Aber sie war zu sehr nicht da, um weiter darüber nachzudenken.
    »Anna«, sagte Gitta, »du träumst. Du träumst, ganz ohne was zu rauchen …

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