Maerchenerzaehler
bleibe«, sagte Anna entschlossen.
Er streifte den Parka ab, schlüpfte aus dem schwarzen Kapuzenpullover und gab ihn ihr, ehe er den Parka wieder überzog.
»Zieh ihn an«, sagte er.
Marcel pfiff durch die Zähne. »Ausziehen!«, rief er. »Mach ruhig weiter, Tannatek … sie kann gleich mitmachen …«
»Halt die Klappe, Marcel«, sagte Abel und trat einen Schritt auf ihn zu. Marcel wich nicht zurück. Er kniff die Augen zusammen und musterte Abel, beinahe erfreut.
»Hey, was ist«, sagte er. »Willst du was? Legst du’s auf Schläge an? Dafür bin ich immer zu haben …«
»Das ist keine gute Idee und das weißt du«, erwiderte Abel. »Darf ich dich daran erinnern, was beim letzten Mal passiert ist?«
Kevin lachte wieder, allerdings etwas verunsichert.
Anna beeilte sich, Abels Pullover anzuziehen. Sie hatte das Gefühl, es wäre notfalls besser, die Hände frei zu haben, aber natürlich war das Unsinn …
»Komm«, sagte Abel, nahm ihre Hand und zog sie fort von den Typen. »Gehen wir ein Stück.« Sie gingen die Straße neben dem Mittendrin entlang, den Dom im Rücken, der in den Winterhimmel aufragte wie ein seltsames Nachtschattengewächs. Die Straße hinter ihnen blieb still und leer und frei von Schritten, die ihnen folgten. An den Hauswänden klebte der Schnee im erfrorenen Efeu.
»Ich kann mich mit denen schlagen«, sagte Abel und schüttelte den Kopf. »Aber ich muss es nicht. Keine Angst.«
»Doch«, sagte Anna. »Ich habe Angst. Ich habe in letzter Zeit eine Menge Angst.«
Er blieb stehen und sah sie an. Er hatte ihre Hand losgelassen.
»Ja«, sagte er. »Ich auch. Aber nicht vor diesen Typen. Sie sind dumm. Sie sind so dumm. Sie wohnen draußen, wo wir auch wohnen. Alle dort, die meisten … sind dumm. Es ist nicht ihre Schuld. Sie erben die Dummheit von ihren Eltern und vererben sie an ihre Kinder wie eine Tradition, wie ein Handwerk. Sie trinken die Dummheit mit der ersten künstlichen Ersatzmilch und mit jedem Bier und jedem Klaren und am Ende bauen sie sich ihre Särge aus der Dummheit.«
»Und du?«, fragte Anna.
»Ich?« Er verstand und lachte. »Ich weiß nicht. Ich bin ein Ausrutscher. Ein Versehen. Ich nehme an, Michelle hat irgendwie einen Intellektuellen ins Bett gekriegt. Ich war immer anders. Und vielleicht, als ich sehr klein war … vielleicht war sie da auch anders. Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht war sie einmal eine Mutter, ehe sie aufgab, überhaupt etwas zu sein. Wir haben einen Brief vom Sozialamt bekommen, dass sie sich bei ihnen melden soll. Sie werden wiederkommen, um Fragen zu stellen …«
Anna legte die Arme in den schwarzen Pulloverärmeln um ihn und hielt ihn einen Moment lang ganz fest.
»Irgendwie wird alles gut«, flüsterte sie. »Irgendwie … ich weiß nicht, wie … lass uns noch ein Stück durch den Schnee gehen. Der Schnee ist so schön … sie haben auch gesagt, wir würden nie mehr Schnee bekommen, und jetzt …«
»Was ist mit den anderen? Im Mittendrin?«, fragte Abel, während er neben ihr herging. »Gehst du nicht zu ihnen zurück?«
»Später«, sagte Anna. »Obwohl ich eigentlich nicht weiß, warum. Ich will überhaupt nicht dort sitzen und mit ihnen feiern. Sie feiern, dass Mathe vorbei ist, aber das glauben sie nur. Sie feiern ihre eigene Dummheit. Sie sind genauso dumm wie die Leute in deinem Block … nur auf eine andere Art, weißt du? Ich will etwas ganz anderes … ich will … ich will auf einem Frachtdampfer nach Amerika fahren. Ich will über den Himalaya wandern. Ich will … fliegen … weit weg … irgendwohin. In die Wüste.« Sie breitete die Arme aus und drehte sich im Schnee wie ein torkelndes Flugzeug, wie ein Kind, das ein torkelndes Flugzeug spielt.
»Ja«, sagte Abel. »Vielleicht komme ich mit … nach Amerika und in den Himalaya und in die Wüste.«
Sie blieb stehen, außer Atem, und merkte, dass sie strahlte. »Lass uns das alles wirklich tun«, flüsterte sie. »Nach dem Abi. Lass uns weit, weit wegfliegen.«
»Und Micha?«
»Micha nehmen wir mit. Es kann ihr nicht schaden, die Welt kennenzulernen … wir können alles machen, weißt du … alles … zusammen …«
Er lächelte. »Alles«, sagte er. »Zusammen. Mit mir? Anna Leemann. Du kennst mich gar nicht.«
Und er nahm sie wieder an der Hand und führte sie zurück zum Mittendrin. Sie wünschte sich mit aller Macht, dass er sie noch einmal küsste, aber sie wagte nicht, die Initiative zu ergreifen, sie wusste nicht, was er
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