Maerchenerzaehler
dem Metalldeckel auf der Papierrolle fest, betätigte für alle Fälle die Spülung und verließ die Mädchentoilette. Ihre Knie waren weich. Sie schlossdie Tür zu den Mädchentoiletten so, dass der Klopapierabschnitt darin feststeckte, man sah von außen nur eine Ecke, eine winzige weiße Fahne, eine Fahne aus Schnee …
Sie musste sich zwingen, nicht zurückzurennen, sie versuchte, so auszusehen, als wäre ihr übel und als hätte sie deshalb so viel Zeit auf der Toilette verbracht. Ihr war übel. Sie wusste nicht, was passieren würde, wenn diese Sache aufflog. Die Klausur würde nicht zählen, das auf jeden Fall, das war das Unwichtigste, aber was würde noch geschehen?
Als sie die Turnhalle wieder betrat, waren dreizehn Minuten vergangen. Dreizehn Minuten auf der Toilette. Natürlich fiel es auf, natürlich, natürlich, verdammt. Am Pult vorne saß nicht mehr der Geschichtslehrer, sondern jetzt der Knaake.
Er sah zu Anna auf und sagte leise: »Herr Meyer ist einen Kaffee trinken gegangen.« Und dann sah er auf seine Armbanduhr und notierte die Zeit, zu der Anna zurückgekommen war. »Hoffentlich geht die Uhr richtig«, murmelte er. »Ich muss sie mal wieder stellen …«
Sie wollte ihn umarmen. Sie nickte nur. In der Liste stand, dass Anna fünf Minuten gebraucht hatte.
Sie warf Abel einen sehr kurzen Blick zu, ehe sie sich setzte. Sieben Minuten später stand er auf. Eventuell waren es in der Liste mehr als sieben Minuten. Sie versuchte, sich auf die zweite Aufgabe zu konzentrieren, die sie eben schon in Stichpunkten auf einem Zehneuroschein gelöst hatte. Während sie schrieb, sah sie Abel vor sich. Er musste die richtige Toilette finden. Er musste die Zahlen auswendig lernen oder sich an sie erinnern, er konnte den Schein nicht mitnehmen. Er musste den Schein vernichten. Was würde er damit tun? Ihn ins Klo spülen? Sie hätte niemals gedacht, dass diesfunktionieren könnte … Abel kam kurz nach dem Geschichtslehrer zurück. Der Knaake notierte die Zeit. Abel setzte sich, ohne sie anzusehen. Sie wagte nicht, nachzusehen, ob er schrieb.
Nach der Klausur stand Anna mit Gitta und den anderen draußen im Hof und sah ihnen beim Rauchen zu. Sie hatte lange nicht mehr so mit ihnen im Hof gestanden, aber es erschien ihr zu auffällig, zu Abel zu gehen. Die anderen schienen Anna und die ganze Geschichte vom Mittwoch vergessen zu haben, sie redeten über die Klausur. Hennes, der nicht mitgeschrieben hatte, hatte einen Arm um Gittas schwarze Lederjackentaille gelegt, Frauke diskutierte mit Gitta an ihm vorbei und schließlich stellte sich Bertil zu ihnen.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte er.
Anna sah ihn an. Sie wollte nicht mit ihm sprechen. Aber seine Frage war ehrlich, und es schien Jahrmillionen her zu sein, dass er nachts im Mittendrin Dinge gesagt hatte, die er besser nicht gesagt hätte. Sie suchte in ihrem Inneren nach der Wut, die sie auf ihn hatte, doch sie fand sie nicht mehr.
»War schon okay«, sagte sie. »Irgendwie bin ich ein bisschen krank … mir ist zwischendurch schlecht geworden …«
»Armes Kind«, sagte Gitta. »Deshalb warst du so lange draußen. Du bist auch ganz blass.«
Anna hoffte, dass Bertil sie nicht zwinkern sah. Er sah es nicht. Er legte ihr eine Hand auf den Arm, besorgt. »Vielleicht solltest du nach Hause gehen.«
»Geht schon«, sagte Anna. »Ich denke, ich bleibe. War sicher nur der Stress mit der Klausur.«
»Manchmal hilft es, sich vom Wind durchwehen zu lassen«, fuhrBertil fort. »Man bekommt einen klareren Kopf. Der Bodden ist jetzt völlig zugefroren. Ich habe sowieso überlegt, ob ich später rausfahre … wir könnten zusammen fahren. Wenn du willst.«
»Der Bodden ist zu?«, fragte Frauke. »Meinst du, man kann schon rüberlaufen nach Ludwigsburg?«
Bertil nickte. »Ich denke. Ich war gestern mit unserem Hund am Strand. Er läuft gern über das Eis. Es ist schön, allein am Strand zu sein, im Winter, in der Dämmerung …«
»Ich dachte, der Hund lebt nicht mehr«, sagte Frauke mit einem Schaudern. »Ich dachte, den habt ihr erschossen.«
»Das ist eine Weile her«, erwiderte Bertil und sah in die Ferne. »Wir haben einen neuen. Dinge sind ersetzbar. Hunde, Freunde, Menschen. Was denkst du, Anna? Kommst du mit? Ich weiß, dass du manchmal auch da draußen spazieren gehst.«
»Heute nicht«, erwiderte Anna schnell. »Ich glaube, heute ist es mir zu kalt da draußen am Wasser. Heute ist mir nicht nach Eis und Schnee.«
Sie dachte an die schwarze
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