Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
nicht …«
    »Ich auch nicht«, sagte die Frau und gab ihre Geheimniskrämerei auf. »Hören Sie, es ist so: Herr Marinke ist heute nicht im Büro erschienen, und er geht nicht an sein Handy, und daher nehme ich an , dass er krank ist. Gedulden Sie sich bis morgen. Dann wissen wir sicher mehr.«
    Anna wählte die Handynummer auf der Visitenkarte. Die Frau ohne Namen hatte recht. Sie bekam nur die Stimme einer Mailbox in kaltem Knistern serviert.
    Hatte denn die ganze Welt beschlossen, zu verschwinden? Michelle, Abel, Micha, Sören Marinke? Wenn alle verschwanden, würde dann am Ende nur sie selbst übrig bleiben, sie selbst und das blaue Licht und die Rotkehlchen im Garten?
    Am nächsten Morgen wachte sie auf und wählte sofort Abels Nummer. Sie konnte sie inzwischen auswendig. Niemand meldete sich. Sie fuhr zur Schule, ohne zu frühstücken. Vielleicht war er da. Vielleicht stand er plötzlich wieder ganz hinten bei den Fahrradständern, die Hände in den Jackentaschen, die Walkmanstöpsel in den Ohren … Er war nicht da. Bei den Fahrradständern war nicht nur niemand. Dort schien sich ein Loch in Form einer Person zu befinden, Abels Abwesenheit war beinahe sichtbar.
    Die anderen redeten über Geschichte. Jahreszahlen surrten über ihren Köpfen durch die Luft wie merkwürdig gestaltlose Winterbienen.
    Sie stellte sich zu Gitta, und Gitta sagte: »Lass uns später reden, mein Kind, die alte Gitta muss sich vor der dritten Stunde noch den Kopf mit Fakten vollstopfen.«
    Anna hatte sich den Geschichtsstoff am Vortag irgendwie doch noch in den Kopf gehämmert, es würde schon alles gut gehen. Sie musste sich auf die Dinge verlassen, die sie in der Woche vorher gelernt hatte. Nichts war unwichtiger als eine Geschichtsklausur. Der silbergraue Hund im Märchen war auf das Schiff der Jäger gesprungen – war er aus Annas Welt gesprungen? In ihrem Kopf lief ein Satz von links nach rechts wie bei einem altmodischen Bildschirmschoner, immer und immer wieder: Und wenn ich ihn nie wiedersehe? Und wenn ich ihn nie wiedersehe? Und wenn ich ihn nie …
    Als in der dritten Stunde die beiden weißen Doppelblätter mit dem Schulstempel vor ihr lagen, musste sie sich zusammenreißen, um nicht anstelle ihres Namens diesen Satz in die obere Ecke zu schreiben. Sie schrieben die Klausur in der Sporthalle, zur Übung, an lächerlich abschreibsicheren Einzeltischen – eine Vorübung für den Ernstfall, das Abitur. Das Abitur, dachte Anna, und sie hörte wieder Knaakes Stimme am Telefon: Pass mir auf den Kerl auf. Wenn er so weitermacht, schafft er es nicht … und im Hintergrund Cohens uralte, weltalte Stimme. Die Tür öffnete sich noch einmal; jemand kam zu spät zur Klausur, kam gerade noch rechtzeitig, um mitzuschreiben – sie hob den Kopf. Es war Abel.
    Gitta sah von Anna zu Abel und zurück. Natürlich war er nicht verschwunden. Sie hatte es Anna ja gesagt. Einer wie Tannatek verschwand nicht, er war mal eine Weile unauffindbar, aber dann tauchte er wieder auf. Oder täuschte sie sich? Verschwand einer wie Tannatek doch? Eines Tages? Für immer?
    Sie versuchte, Annas Blick aufzufangen, doch Anna sah sie nicht an. Auch Anna war verschwunden, auf eine seltsame Art weit fort; sie war so weit fortgedriftet, dass sie den Weg zurück vielleicht nicht mehr finden würde. Irgendwann würde sie es merken, und dann würde sie dastehen, verdammt, irgendwo im Nichts, und Gitta könnte sie nicht mehr erreichen.
    Gott, sie war nicht der Messias, und es war nicht ihre Aufgabe, hier irgendjemanden zu retten. Überhaupt konnte man niemanden vor sich selbst retten. Ach, Scheiße.
    Sie sah zu Hennes hinüber, sah sein rotgoldenes Haar leuchten, sah ihn lächeln und ihr zuzwinkern, ehe er sich über sein Blatt beugte. Heute Nacht (und warum eigentlich erst nachts?) würdesie vergessen, dass sie Anna verloren hatte. Sie fragte sich, ob sie die Einzige hier war, die sich genug da draußen herumtrieb, um die Wahrheit über Tannatek zu kennen. Und ob er ahnte, dass sie die Wahrheit kannte. Sie würde den Mund halten und alles würde irgendwie seinen Lauf nehmen. Ach, Scheiße. Ach, Scheiße. Ach, egal.

11
    Sören
    Anna ballte ihre Hände zu Fäusten, um nicht aufzuspringen. Nie hatte sie sich so gefreut, jemanden zu sehen. Sie senkte ihren Blick auf das Blatt vor ihr, verbarg ihr Lächeln hinter ihrem Haar. Sie hörte den Geschichtslehrer etwas zu Abel sagen, ihm den letzten freien Platz ganz hinten anweisen, und als sie wieder aufsah, ging Abel

Weitere Kostenlose Bücher