Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
Tiefe in Abels Augen. Er hatte seinen gewöhnlichen Platz eingenommen. Sie sah ihn ganz leicht den Kopf schütteln. Komm nicht her. Nicht jetzt. Später, wenn die Klausur nicht mehr so direkt in der Luft hängt. Er hatte recht.
    »Jetzt, wo ihr Geschichte hinter euch habt«, sagte Hennes, »könnte man mal wieder dafür sorgen, dass unser Kurzwarenhändler was verdient. Ich meine, wo er schon extra aufgetaucht ist. Gitta … was machen wir Samstagabend?«
    »Wenn du dich und mich meinst, morgen Abend hüten wir das Haus bei mir«, antwortete Gitta. »Weil meine Mutter Nachtdienst hat. Es muss ja jemand aufpassen, dass das Ledersofa nicht gestohlen wird, und alleine kann ich das wohl schlecht. Frauke,hör auf zu kichern.« Sie zündete sich eine neue Zigarette an. »Zum Haushüten brauchen wir keine polnischen Kurzwaren«, fuhr sie fort.
    »Nein?«, fragte Hennes und pustete sein Haar aus der Stirn. »Schade eigentlich.«
    »Ich habe noch irgendwo einen Vorrat«, sagte Gitta. »Lass Abel in Ruhe.«
    Hennes pfiff durch die Zähne. »Neuerdings haben die erstaunlichsten Leute Vornamen. Hör mal, ich wollte nur sein Gehalt aufbessern.«
    Gitta nickte. »Ihre soziale Ader in Ehren, Herr von Biederitz, aber manche Leute wollen manchmal nicht mit manchen anderen Leuten reden. Ich erkläre es Ihnen später. Und jetzt begleiten Sie mich lieber nach drinnen, zu zwei unglaublich langweiligen weiteren Stunden angeblicher Abiturvorbereitung.«
    Drinnen fand sich Anna auf der Treppe zum ersten Stock im Gedränge neben dem Knaake wieder.
    »Danke«, sagte sie leise.
    »Danke wofür?«, fragte der Knaake.
    »Für … nichts«, sagte sie und begriff, dass sie besser den Mund hielt, wenn sie ihn nicht in Gefahr bringen wollte. Es waren zu viele Ohren in der Nähe. Sie dachte zurück an ihr Telefonat, und dann fiel ihr etwas ein, kurz vor dem Ende der Treppe.
    »Kennen Sie Michelle Tannatek?«, fragte sie völlig ohne Übergang.
    Er hob die ergrauenden Augenbrauen. »Wen?«
    »Abels Mutter.«
    Er blieb am Kopf der Treppe stehen, ließ die anderen Leute weitergehen und schüttelte den Kopf.
    »Sie war nie bei mir in der Elternsprechstunde, wenn du das meinst.«
    »Das meine ich nicht«, sagte Anna und sah ihm fest in die Augen. »Kennen Sie sie? Vielleicht – von früher?«
    »Nein«, sagte der Knaake und begann, in seiner Tasche nach etwas zu suchen, das er vermutlich nicht dort verloren hatte. Womöglich eine Erinnerung. Sie ließ ihn stehen, ließ ihn allein mit seinem Nein und fragte sich, was es bedeutete.
    Nach der sechsten Stunde stand draußen bei den Fahrradständern eine Gestalt, die nicht Abel war und die ganz offensichtlich fror – eine kleine Gestalt in einer rosa Daunenjacke. Als sie Anna sah, rannte sie auf sie zu, und Anna fing sie in ihren Armen auf. Die rosa Daunenjacke roch nach Wind und Meer und ein wenig vielleicht nach billigem polnischem Tabak.
    »Micha«, sagte Anna, »Micha, wo wart ihr? Ich war bei euch … ich habe versucht, euch anzurufen … was ist passiert?«
    »Wir haben einen Ausflug gemacht«, antwortete Micha, aber sie schien zu wissen, dass es nicht ganz normal war, an einem Schultag plötzlich einen Ausflug zu machen. »Abel hat gesagt, wir müssen früh los, wir sind Bus gefahren und dann Zug. Wir waren auf Rügen. Ich musste nicht zur Schule, weil man auf Ausflügen nicht zur Schule muss, und wir haben uns den Strand angeguckt, der war ganz lang und voller Schnee … wir haben auch Kakao getrunken, und ich bin ganz weit gewandert, richtig mit Rucksack, und wir hatten ein Picknick mit … Wo ist Abel?«
    »Hier«, sagte Abel hinter Anna, schob sie sanft beiseite und legte einen Arm um Micha. »Was tust du auf diesem Schulhof?«
    »Oh, ich hatte früher Schule aus«, erklärte sie eifrig, »aber ichwollte nicht da warten. Frau Milowicz fragt immer Sachen, das ist meine Lehrerin, weißt du, Anna. Ich mag sie, aber sie fragt so wie … wie der Herr Matinke. Über Mama und alles. Da bin ich lieber hergekommen. Obwohl es ganz schön weit ist zu Fuß.«
    »Ich glaube«, sagte Abel, »wir gehen heute nicht in die Mensa. Wir hatten ja gestern den Ausflug, das reicht erst mal. Der Zug und alles, das war ja schon teuer. Wir gehen jetzt einfach nach Hause und denken an den Ausflug von gestern, ja?«
    »Ja«, sagte Micha und sah auf ihre Füße. »Aber können wir nicht irgendwo anders hingehen? Zu Hause ist es gar nicht mehr so schön. Ich denke immer, jetzt steht dieser Herr Minke vor der Tür, und

Weitere Kostenlose Bücher