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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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nach hinten, an ihrem Tisch vorbei. Einen Moment lang sah sie in seine Augen. Und sie erschrak.
    Das Eis seines Blicks hatte sich verändert, es schien dunkler geworden zu sein, wie die Eisfläche eines Sees, dessen Tiefe man plötzlich ahnt, wenn der Wind den Schnee von der Oberfläche gefegt hat: eine unendliche Tiefe, bodenlos und beinahe völlig schwarz. Sie wusste nicht, was am Grund dieses dunklen Gewässers lag, welche Gedanken und Gestalten dort durch die Tiefe schwammen, und sie machten ihr Angst. Es war, als könnte sie zusehen, wie Abel in seinem eigenen Inneren ertrank. Sie schüttelte den Kopf, um diese verwirrend abstrakten Gedanken loszuwerden. Was war geschehen? Wo war er gewesen?
    Sie sah sich nach Gitta um und Gitta zuckte die Schultern. Der Geschichtslehrer teilte die Prüfungsblätter aus, dicht bedruckt mit bedrohlichem Fragentext. Konzentrier dich, dachte Anna, konzentrier dich auf die verdammte Klausur. Lies den Text. Funktioniere.
    Und sie funktionierte. Die Fakten waren in ihrem Kopf gespeichert, zuverlässig und sicher, sie war trotz allem noch immer Anna Leemann, sie war eine gute Schülerin, ihr Hirn ließ sich mit Stoff füllen und spuckte ihn wieder aus, wenn es von ihm erwartet wurde. Sie musste nur zwei von drei Texten bearbeiten, sie beeilte sich, ihr Stift glitt beinahe von selbst über das Papier, und es war, als sähe sie ihren kleinen, ordentlichen Buchstaben von außen dabei zu, wie sie entstanden. Sie sah erst auf, nachdem sie mit der ersten Aufgabe fertig war: mit der Hälfte der Klausur. Alle anderen waren über ihre Blätter gebeugt und schrieben hektisch. Der Geschichtslehrer stand vorne am Pult. Es gab eine zweite Aufsichtsperson, es gab immer eine zweite Aufsichtsperson, in diesem Fall einen Lateinlehrer, den Anna nie gehabt hatte und den sie nur vom Sehen kannte. Genau in diesem Moment sah er auf die Uhr und verließ die Turnhalle, er wurde durch eine andere Aufsichtsperson abgelöst, die durch eben jene Tür hereintrat. Der Knaake. Anna sah seinen Blick suchend über die Reihen gleiten. Sie wusste, wen er suchte. Sie sah, wie er ihn fand, sah ihn nicken und durch die Reihen gehen, die Hände auf dem Rücken, in Gedanken. Und jetzt, endlich, wagte sie es, sich umzudrehen und ganz nach hinten zu sehen.
    Abel schrieb nicht. Er hielt einen Stift in der Hand, er hatte geschrieben, aber jetzt sah er sie an. Und sie las seinen Blick. Diesmal war er einfach zu lesen. Es ging nicht um dunkle Tiefen unter dem Eis oder darum, was gestern geschehen war. Es ging um eine Geschichtsklausur. HILF MIR, las Anna in seinen Augen. HILF MIR. ICH HABE KEINE AHNUNG, WAS ICH SCHREIBEN SOLL. Und sie nickte kaum merklich. Sie schloss die Augen, sie dachte an Gittas Geschichten. Es gab eine klassische Lösung. Sie griff in ihre Tasche, fand irgendein Stück Papier – gut. Sie holte statt des Papiers ein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase, als hätte sie nur deshalb in die Tasche gegriffen. Überflüssige Vorsicht, dachte sie, der Geschichtslehrer sah sie nicht an, und ob der Knaake sie ansah, war eventuell nicht von Bedeutung. Sie ließ einen Stift in ihre Tasche gleiten, stand auf und ging nach vorne. Der Geschichtslehrer sah auf die Uhr, notierte ihren Namen und die Zeit, nickte ihr zu, sie hatte die offizielle Erlaubnis, aufs Klo zu gehen. Ihr Puls raste. Natürlich konnte er ihre Gedanken nicht lesen. Sie hatte nichts Verbotenes getan, noch nicht.
    Minuten später saß sie auf einem weißen Toilettendeckel und schrieb. Das Papier in ihrer Tasche war kein Papier. Es war ein Geldschein. Egal. Sie schrieb winzig klein, sie beschrieb den ganzen Geldschein von oben bis unten mit ihren winzigen, ordentlichen Buchstaben, ihre Finger flogen. Sie schrieb die Lösung der ersten Aufgabe in knappen Stichpunkten auf, notierte Jahreszahlen, Daten, Hinweise auf Hintergründe. Das Denken – »Interpretieren Sie den folgenden Text im geschichtlichen Zusammenhang und diskutieren Sie folgende Fragen …« – musste Abel selbst erledigen. Sie hatte den zweiten Text bereits gelesen, sie notierte auch zu diesem Text Zahlen und Satzfetzen, die ihm vielleicht halfen, sich zu erinnern. Irgendwann musste er den Stoff gelernt haben, bestimmt – sie war nicht schnell genug. Sie hatte nicht genug Platz auf dem Geldschein. Sie erwog, das Toilettenpapier zu benutzen. Sie sah auf die Uhr. Sie musste zurück, sie saß schon zu lange hier. Sie riss ein Stück Toilettenpapier ab, klemmte den Geldschein unter

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