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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sah es gleich an den Rädern im Fahrradständer, an den drei geparkten Autos davor, wo eigentlich niemand parken durfte, an den Spaziergängern, die ihre Hunde, Kinder, Tanten, Rollstühle, Großväter am Hafen ausführten. Die Leute saßen sogar draußen auf der Caféterrasse, draußen im kalten Wind, die Kragen der Jacken hochgeschlagen, die Hände Wärme suchend um ihre Teetassen geschlungen. Und als Anna diesmal Abel und Micha entdeckte, die im Aus und Ein der Gäste neben der Treppe warteten, da hatte sie kein helles Glücksgefühl im Bauch, sondern eine nagende, beunruhigende Art von Sorge. Sie hatte im Vorbeifahren Fetzen einzelner Gespräche aufgeschnappt, blutige, rohe Wortfetzen voll von angenehmem Schauer. Sie wusste, warum all diese Leute hier waren: um in der Nähe des Ortes zu sein, wo es passiert war. All diese Leute hatten Radio gehört. Manche kamen vom Strand, der drüben auf der anderen Seite der Flussmündung lag, sie waren schon dort gewesen, und Anna hörte: »Absperrband Grube abgesteckt Hunde Spuren Schnee aufgewühlt Hast du gesehen, wo er lag?« Andere wollten noch hingehen und sprachen von »näher ansehen vielleicht zu einem Schluss kommen gruselig die Vorstellung allein vielleicht in der Nacht und dann von hinten der Schuss«.
    Sie gingen schweigend zu dritt auf die Mole hinaus. Auf der Mole war es leer, dort gab es kein Absperrband zu sehen.
    »Warum hier?«, fragte Anna. Es war das Erste, was irgendeiner von ihnen sagte, selbst Micha hatte bisher geschwiegen. »Gerade hier, zwischen all den Leuten?«
    »Weil wir immer herkommen, natürlich deshalb«, antwortete Micha, doch Abel schüttelte langsam den Kopf.
    »Nicht nur deshalb«, sagte er leise. »Da ist noch etwas. Du … wirst das vielleicht für dumm halten … aber ich wollte wissen, wer hier ist. Hier laufen alle Gerüchte zusammen … ich könnte mir vorstellen, dass er hier ist, weil ihn die Gerüchte auch interessieren.«
    »Wer?«, fragte Anna.
    »Der Mörder«, antwortete Abel und sah aufs Meer hinaus. Sie waren ganz vorne am Geländer der Mole angekommen, dort, wo das grüne Leuchtfeuer den Schiffen den Weg wies, ganz ohne Leuchtturmwärter. »Sie werden mir diese Sache anhängen, Anna. Und es gibt nur einen Weg, sie davon zu überzeugen, dass ich es nicht war. Einen besseren Weg als den, mit tausend Busfahrern und Schaffnern zu telefonieren. Wenn ich herausfinde, wer es in Wirklichkeit war, wenn ich ihnen den eigentlichen Mörder liefere … verstehst du? Dann müssen sie mir glauben. Dann müssen sie mich gehen lassen.«
    »Aber es hält dich doch niemand fest«, sagte Anna. »Haben sie gesagt, sie glauben, dass du …?«
    Abel schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, murmelte er.
    Damokles war zurückgekehrt.
    Er stützte beide Arme auf das runde weiße Metallgeländer und sah hinab aufs Eis, wo unzählige Spuren durch die dünne Schneeschicht liefen: Spuren von Blesshühnern und Enten, Schwänen und Sägern. Gab es irgendwo auf dem Eis, irgendwo im Schnee am Strand auch die Spur eines Mörders?
    »Es ist jemand, der etwas mit mir zu tun hat«, flüsterte Abel. »Es kann nur so sein. Warum sonst … warum hätte jemand erst Rainer Lierski erschossen und anschließend Sören Marinke? Und wer kommt als Nächstes?«
    Anna schüttelte sich. »Gar niemand. Weil wir vorher herausfinden, was … was hier geschieht. Ich helfe dir. Ich kann mich auch umhören … wenn du mir sagst, wo und wann …«
    Er drehte sich abrupt nach ihr um. Das Eis in seinen Augen funkelte im Sonnenlicht.
    »Nein«, sagte er. »Tu das nicht. Versprich mir, dass du dich aus dieser Sache heraushältst. Das hier ist kein Spiel und auch keine Geschichtsklausur. Ich will nicht, dass dir etwas passiert.«
    »Danke«, sagte Anna ärgerlich. »Ich bin gerade letzte Woche fünf geworden.«
    Abel packte sie an den Schultern und sah sie noch eindringlicher an, als wollte er mit seinem Blick ein Loch in ihre Netzhaut brennen. »Sie sind tot, Anna«, flüsterte er. »Sie sind beide tot. Tot, mausetot! Begreifst du das nicht?«
    »Doch«, sagte Anna und sah zu Boden.
    »Also, wenn ihr jetzt aufhören könnt, euch zu streiten«, sagte Micha, »dann wäre das ganz gut, weil jetzt gerade keiner hier ist, und wir wollten doch mit der Flöte den Seelöwen wecken, und vielleicht geht es ja nur, wenn wir alleine auf der Mole sind.«
    Sie hatte bis jetzt Purzelbäume um ein anderes Stück des weißen Geländers gemacht und kam jetzt neben ihnen zum Stehen, die Wangen

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