Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
gerötet, die blassblonden Zöpfe halb aufgelöst. Nichts an ihr erinnerte auch nur entfernt an das Wort »Tod«.
    Anna schob alle Gedanken an Marinke beiseite und holte die Querflöte aus ihrem Rucksack. Sie war natürlich kalt geworden und verstimmt, aber ein Seelöwe hörte womöglich keinen Unterschied. »Was soll ich spielen?«
    »Irgendetwas«, meinte Micha leichthin. »Etwas Schönes.«
    Abel nickte, lehnte sich an den grün gestrichenen Pfosten, auf dem oben die Kammer mit dem Leuchtfeuer saß wie ein Ampelkopf, und begann, eine Zigarette zu drehen.
    »Wir müssen sehen, ob wir den Seelöwen wecken können«, sagte er. »Es geht ihm nicht gut. Seine Wunden sind tief und sein Schlaf ist noch tiefer. Beinahe hatte er schon aufgegeben, als sie ihn aus dem Wasser gezogen haben …«
    Anna überschlug im Kopf alle Stücke, die sie spielen konnte, vom einfachsten bis zum schwierigsten, dem, das sie jetzt übte und das sie im Abitur zusammen mit zwei anderen vorspielen würde. Sie dachte an alle Triller und Melodien, und keine schien ihr gut genug, um einen verwundeten Seelöwen aus einem Märchen zu wecken. Schließlich schloss sie die Augen und stellte sich vor, sie stündean Deck des grünen Schiffes. Am Horizont sah sie die schwarzen Segel ihrer Verfolger, die noch immer nicht aufgegeben hatten. Die kleine Königin stand neben ihr. Vor ihnen in der Kajüte lag der reglose Seelöwe. Aber nein, hier war er ja ein Hund, und daneben saß die blinde weiße Katze und gähnte gelangweilt. Da wusste sie auf einmal, was sie spielen musste. Sie setzte die Querflöte an die Lippen und bat das kühle Silber um eine einfache Melodie, eine Melodie ohne Schlenker und Kringel und Triller, eine Melodie, deren Text man in der Luft mitlesen konnte, wenn man ihn kannte:
    There’s a concert hall in Vienna
    Where your mouth had a thousand reviews.
    There’s a bar where the boys have stopped talking,
    They’ve been sentenced to death by the blues …
    Sie hörte Abel summen und war sich beinahe sicher, dass sie auch die Worte gehört hatte; es war eines jener Lieder auf Lindas Schallplatte und vermutlich auf Michelles Kassette: der alte Kanadier mit seiner undurchschaubar dunklen Poesie.
    Ah, but who is it climbs to your picture
    With a garland of freshly cut tears?
    Ay, Ay, Ay, Ay
    Take this waltz, take this waltz,
    take this waltz, it’s been dying for years.
    »Die kleine Königin beugte sich hinunter, um den silbergrauen Hund zu streicheln«, sagte Abel. »Und in diesem Moment blinzelte er. Er hob den Kopf, sah sie mit seinen goldenen Augen an und schlug mit dem Schweif. Und dann stand er auf, schlich langsam hinauf an Deck – und sprang ins Wasser. Kurze Zeit später schwamm wieder ein Seelöwe neben dem grünen Schiff auf den Wellen. Aberdie Wellen hoben und senkten sich nur noch schwerfällig, und der Leuchtturmwärter kratzte sich mit seinem Brillenbügel hinterm Ohr und sagte: ›Bald … bald friert das Meer. Dann gibt es endgültig kein Vorwärtskommen mehr. Und was tun wir dann?‹«
    Anna hatte die Flöte abgesetzt. Einen Moment lang war es ihr, als sähe sie draußen im Wasser der Fahrrinne, die für die Fischerboote frei gehalten wurde, etwas auftauchen – einen dunklen, runden Kopf mit glänzenden schwarzen Augen –, Unsinn! Später dachte sie, dass es nicht der Kopf eines Seelöwen gewesen war, sondern der eines Menschen, eine Vision von dem, was noch geschehen würde, aber das war natürlich noch größerer Unsinn.
    Abel nahm sie an der freien Hand und führte sie über die Mole zurück zum Utkiek, während Micha eifrig neben ihnen herlief.
    »›Noch ist das Meer ja nicht gefroren‹, sagte die kleine Königin. ›Aber was ist das dort? Ist das nicht eine weitere Insel? Sollten wir sie nicht ansteuern?‹
    ›Nein, das sollten wir nicht‹, erwiderte der Leuchtturmwärter, ›denn das, meine kleine Königin, ist die Insel des Mörders.‹
    ›Das glaube ich nicht‹, sagte die kleine Königin und schüttelte Frau Margarete, dass ihr blau-weiß geblümter Kleidersaum nur so flog. ›Frau Margarete schüttelt den Kopf, sie glaubt es auch nicht. Ich möchte hinfahren und nachsehen, wer dort wohnt.‹
    Da seufzte der Leuchtturmwärter tief und steuerte das Schiff auf die Insel zu. Es war eine ganz kleine Insel, kleiner als alle, die sie bisher besucht hatten. An einer Seite hatte jemand ein Schild aufgestellt und mit schwarzer Farbe daraufgeschrieben: INSEL DES MÖRDERS. ›Huh!‹, rief die kleine

Weitere Kostenlose Bücher