Märchenkranz für Kinder - Märchen der Welt ; 67
ein Stück nach dem andern, und konnte gar nicht satt werden; die Knochen warf er unter den Tisch. Marlenchen aber weinte, und aß nicht und trank nicht, sondern bückte sich unter den Tisch, und las sorgfältig alle Knöchlein in ihr bestes, seidenes Tuch, das sie aus dem Schrank nahm.
Nachdem sie nun alle Beinchen zusammen gebunden hatte, trug sie das Tuch vor die Thüre unter den Maßholderbaum, und weinte darauf blutige Thränen. Hierauf begrub sie das Tüchlein, worin die Gebeine ihres Brüderchens wie in einem Sarge lagen, unter dem Rasen des Maßholderbaumes, und als sie das vollbracht hatte, da ward ihr so leicht, so leicht um das Herz, und sie weinte nicht mehr. Aber der Maßholderbaum fing an, sich zu regen und zu bewegen in den Zweigen, und es lispelte darin, als wenn sich jemand freut, und recht inniglich froh ist. Hierauf ging ein Nebel von der Erde, und stieg zu dem Baum hinauf, aus dem Nebel aber loderte eine Flamme empor, und aus der Flamme flog ein Vogel hoch in die Luft, der war schöner, als der Regenbogen, und trug eine goldene Krone auf dem Haupte. Als das Marlenchen sah, wurde ihr so leicht um das Herz, als wäre nichts geschehen, und sie ging wieder zurück in's Haus, und setzte sich an den Tisch.
Der Vogel aber flog weg, und setzte sich auf das Haus eines Goldschmidts, wo er also sang:
Meine Mutter schlug den Kopf mir ab,
Des Vaters Magen ward mein Grab,
Marlenechen, mein Schwesterlein,
Legt' in ein Tüchlein mein Gebein,
Und grub es auf des Hofes Raum,
Wohl unter dem Maßholderbaum;
Tireli, tireli, seht mich,
Was für ein schöner Vogel bin ich!
Das hörte der Goldschmidt, der eben eine schöne goldene Kette in der Hand hielt, und lief aus seiner Werkstatt, um den Wundervogel zu sehen.
Als er auf die Straße kam, schien die Sonne so hell, und der Himmel glänzte so schimmernd, daß er sich die Hand vor die Augen halten mußte, um den Vogel zu sehen. Als er ihn nun auf dem Dache sitzen sah, sprach er: »Mein Goldvöglein, singe mir dein schönes Liedchen noch ein Mal.« – »Ja,« antwortete der Vogel, »wenn du mir die goldene Kette giebst, welche du in deiner Hand trägst!« – »Du sollst sie haben!« sagte der Goldschmidt, »nur singe mir dein Liedchen.«
Da kam der Vogel, und nahm in die rechte Klaue die Kette, und flog zurück auf das Dach, und wiederholte seinen Gesang, daß der Goldschmidt mit offenem Munde stehen blieb, und die Leute auf der Straße vor Verwunderung zusammenliefen.
Hierauf flog der Vogel weg mit seiner Kette, und setzte sich auf das Haus eines Schuhmachers. Der saß eben in seiner Werkstatt mit seiner Frau, den Gesellen und den Lehrburschen, und hielt in den Händen ein Paar kostbare, mit Gold und Edelsteinen besetzte seidene Schuhe, und als er an nichts weniger dachte, so ließ der Vogel vom Dache sein Wunderlied hören:
Meine Mutter schlug den Kopf mir ab,
Des Vaters Magen ward mein Grab,
Marlenechen, mein Schwesterlein,
Legt' in ein Tüchlein mein Gebein,
Und grub es auf des Hofes Raum,
Wohl unter dem Maßholderbaum;
Tireli, tireli, seht mich,
Was für ein schöner Vogel bin ich!
Da stürzte der Schuster heraus mit Frau und Burschen und Gesellen, die Schuhe aber behielt er in seiner Hand, und nachdem er den Vogel auf dem Dache entdeckt hatte, so sprach er: »Mein Goldvöglein, singe mir dein schönes Liedchen noch ein Mal!« – »Umsonst thue ich es nicht,« antwortete der Vogel, »wenn du mir aber die Schuhe giebst, welche du in der Hand hältst, so will ich das Lied wiederholen.« Da hielt ihm der Schuhmacher die zwei goldbeschlagenen Schuhe hin, welche ihm der Vogel aus der Hand nahm, und sie mit der linken Klaue festhielt. Hierauf flog er wieder auf das Dach, und sang sein Wunderlied. Um ihn aber leuchtete die Sonne, und der Himmel strahlte im blendenden Schimmer, so daß Alle, wie versteinert, stehen blieben.
Unterdeß flog der Vogel weg, die goldene Kette in der einen, die seidenen Schuhe in der andern Klaue tragend, und setzte sich nicht eher nieder, als vor dem Thore, wo ein Lindenbaum vor einer Wassermühle stand. Daselbst nahm er Platz oben in der Spitze. Vor der Mühle aber stand der Müller mit funfzehn Knappen, die behaueten einen großen Mühlstein, und sahen nicht, und hörten nicht. Mit einem Male aber wurde es ihnen so hell vor den Augen, und als der Vogel anfing zu singen:
Meine Mutter schlug den
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