Maerchenmond - Das Buch zum Musical
aufgewacht war, die Ado mit fast unheimlicher Sicherheit immer dann aufspürte, wenn sie müde wurden, hatte sich Kim vergeblich den Kopf darüber zerbrochen, wie lange sie eigentlich schon unterwegs waren. Er konnte es nicht sagen.
Tage, bestimmt. Aber wie viele es waren, daran konnte er sich einfach nicht erinnern. Vielleicht nur einer oder zwei, vielleicht auch viel mehr – oder sogar Wochen. Die Zeit schien hier anderen Regeln und Gesetzen zu gehorchen.
Vielleicht lag es auch an dem Weg, den sie zurückgelegt hatten und der ihm so endlos vorgekommen war. Denn wenn Märchenmond das Land der Träume war, dann musste das hier ein Gestalt gewordener Albtraum sein.
Am Anfang hatten sie noch miteinander geredet. Ado hatte von früher erzählt, von seinem Vater und wie schön diese Wälder gewesen waren, bevor Boraas und seine schwarzen Reiter kamen, und Kim von seiner Schwester und all den glücklichen Tagen, die sie miteinander erlebt hatten. Und wäre es so weitergegangen, dann wären sie am Ende ihrer Wanderung vielleicht schon gute Freunde gewesen. Denn aus irgendeinem Grund wusste Kim einfach, dass er diesem sonderbaren Jungen vertrauen konnte.
Aber so war es nicht weitergegangen. Schon bald waren ihre Gespräche einsilbiger geworden und schließlich ganz verstummt, und am Ende wanderten sie nur noch schweigend nebeneinanderher durch eine Welt, die nur aus sterbenden Bäumen und totem Unterholz bestand, aus faulenden Tümpeln und vergifteten Bächen, die sich durch verseuchtes Erdreich schlängelten. Selbst ihre Gedanken waren immer trüber und niedergeschlagener geworden, als vergifte dieses sterbende Land ganz allmählich sogar ihre Seelen.
Nun hatten sie ihr Ziel erreicht, aber eswurde nicht besser. Es war lediglich eine andere Art von Entsetzen und Niedergeschlagenheit, die Kim jetzt verspürte. Bisher hatte er es für … nun ja … eben Blödsinn gehalten, wenn Boraas und auch Ado von den angeblich bis zum Himmel und höher reichenden Schattenbergen erzählten. Aber die zerklüfteten schwarzen Klippen, an deren Fuß ihn Ado geführt hatte, reichten tatsächlich bis in den Himmel hinauf und verschmolzen mit seiner bleigrauen Farbe, ohne irgendwo sichtbar zu enden.
»Wir sind da«, sagte Ado überflüssigerweise. Kim kam es so vor, als wären es die ersten Worte, die er seit Tagen sprach. Vielleicht war es tatsächlich so.
Sein Blick tastete abermals über die schroffen schwarzen Flanken des Gebirges. Manche von ihnen waren so scharfkantig wie Axtklingen, sodass es beinahe wehtat, sie auch nur anzusehen, und allzu oft stieg der schwarze Fels fast lotrecht in die Höhe. Schon der bloße Gedanke, dieses Hindernis übersteigen zu wollen, war lächerlich.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, fragte Ado in diesem Moment: »Und duglaubst wirklich, du findest einen Weg da rüber?«
Kim schüttelte den Kopf. »Wir«, antwortete er.
Ado schwieg einen Moment, und dann war er es, der den Kopf schüttelte. »Weiter gehe ich nicht mit«, sagte er. »Ich habe dich bis hierher gebracht, aber für mich ist hier Schluss.«
»Aber dort drüben liegt Märchenmond«, widersprach Kim. »Das Land, von dem du geträumt hast! Hast du das schon vergessen? Du hast es doch selbst gesagt: klares Wasser und grünes Gras, süße Luft und lebendige Bäume und …«
»… und hinausgehen zu können, ohne Angst zu haben«, unterbrach ihn Ado. »Ja, davon träume ich, jede Nacht. Aber ich möchte nicht weglaufen. Märchenmond ist bestimmt so schön, wie du es sagst. Sicher ist es wunderbar dort … aber das hier ist meine Heimat, Kim. Ich will nicht in ein Land flüchten, das noch lebendig ist. Ich will, dass meine Heimat wieder lebt. Ich kann nicht mit dir kommen, selbst wenn du einen Weg über diese Berge findest.« Was ich bezweifle , fügte sein Blick hinzu.
Kim war zutiefst enttäuscht, aber er versuchte nicht noch einmal, Ado umzustimmen. Er verstand den Jungen, und vielleicht hätte er an seiner Stelle nicht anders entschieden.
Er legte den Kopf in den Nacken und versuchte zum wiederholten Mal vergeblich, die Stelle zu entdecken, an der der schwarze Fels aufhörte und der Himmel begann. Ado hatte recht: Es gab keinen Weg dort hinüber. Wie hatte Rebekka es nur geschafft?
Niedergeschlagen machte er einen Schritt zurück, blickte einen der schwarzen Felsen links von sich an und konnte regelrecht hören, wie es hinter seiner Stirn Klick machte. Hinter dem Felsen war ein Schatten zu erkennen, schwärzer als die dunkelste
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