Märchenmord
die Wassermelone. Wieder wandte sie sich zur Wohnung gegenüber. Sie konnte es einfach nicht lassen. Ihr Blick wurde magisch angezogen. Sie glaubte, eine Bewegung hinter dem einzigen heil gebliebenen Fenster wahrzunehmen. Nein, sie hatte sich getäuscht. Gespenster, Geister, der böse Blick. Humbug. Sie sollte unter die Dusche und sich abkühlen. Vielleicht wurde dann ihr Verstand wieder klar. Sie wollte sich umdrehen, als sie erneut aus den Augenwinkeln gegenüber einen Schatten bemerkte. Oh Gott. Fing alles wieder von vorne an? Begann der Albtraum von Neuem? Und dann schien es ihr, als ob ihr jemand hinter dem Fenster zuwinkte. Sie trat einige Schritte zurück, konnte den Blick jedoch nicht abwenden. Eine Gestalt erschien am Fenster. Ihr Herz klopfte. War es das Mädchen? Nein. Das Gesicht, das sich an die Fensterscheibe presste, kam ihr plötzlich… nicht gerade vertraut, aber zumindest bekannt vor. Noah!
Es war Noah, der dort drüben stand und ihr unverkennbar zuwinkte . Was machte er dort ? Er hörte nicht auf zu winken . Er wollte, dass sie zu ihm hinüberkam . Ohne zu überlegen, griff Gina nach dem Geld, steckte es in ihren Rucksack und verließ die Wohnung .
*
Im Flur der Rue Daguerre Nr. 13 war es still. Sie bewegte sich leise die Treppe hoch und blieb erschrocken stehen, als sie ein schepperndes Geräusch hörte. Sie beruhigte sich wieder, als sie feststellte, dass es ein Fahrstuhl war. Ein uralter Aufzug mit schmiedeeiserner Tür, der in einem mit Eisenverzierungen versehenen Schacht langsam und laut klappernd nach oben kroch. Im vierten Stock angekommen, stand sie vor einer verschlossenen Tür. Sie wollte gerade klopfen, als sie von oben Schritte hörte. Sie konnte hier nicht einfach stehen bleiben. Jeder im Haus wusste spätestens seit gestern, dass die Wohnung leer stand. Zudem war sie völlig ausgebrannt. Die Schritte näherten sich. Gina drehte sich um und ging weiter die Stufen hoch. Am nächsten Treppenabsatz erschien diese unglaublich dicke Frau ohne ihren Hund und schleppte sich mit einem Eimer Wasser und einem Wischmopp die Treppe hinunter. Sie bemühte sich um einen ruhigen Schritt, und als sie vorbeiging, sagte sie betont höflich: »Bonjour.« Sie wartete, bis sie die Frau unten an der Haustür hörte und kehrte wieder zurück. Sie hatte keine Zeit, lange zu überlegen, also klopfte sie und rief leise: »Noah. Ich bin’s.« Sofort öffnete sich die Tür. »Komm rein!« Er trug dieselbe Jeans und dasselbe T-Shirt wie am Tag zuvor, allerdings wirkte er unausgeschlafen. Irgendwie zerknittert, al s hätte er die Nacht in seinen Kleidern verbracht . »Was ist los? Wie kommst du in die Wohnung? « Er legte den Finger auf die Lippen und bedeutete ihr hereinzukommen. Sie schlüpfte an ihm vorbei und fand sich in eine m dunklen Flur wieder. Der Rauch hatte die Wände, die Möbel, di e Bilder, die Lampe geschwärzt. Brandgeruch hing in der Luft. Gina spürte ein Kratzen im Hals. Der Hustenreiz ließ sich kau m unterdrücken . Der rote Teppich vor der Eingangstür war mit Asche überzogen . Die Holzdielen darunter knarrten, als seien sie lose . »Was zum Teufel machst du hier?«, krächzte sie . »Komm, in der Küche ist die Luft besser«, flüsterte er . Auch die Möbel in der Küche trugen eine graue Ascheschicht , doch war es nicht so schlimm wie im Flur . »Wie bist du hereingekommen?«, fragte Gina erneut . »Durch das Fenster.« Noah deutete auf die Wand hinter ihr. Si e drehte sich um. Es gab hier ein schmales Fenster, das zum hinteren Treppenhaus führte . »Es war gekippt«, grinste Noah. »Und ganz leicht zu öffnen. « »Das heißt noch lange nicht, dass es für dich offen stand. Wa s machst du hier? « »Ich habe hier geschlafen. « »Wie, geschlafen? « »Du weißt doch, dass kein Bus mehr in die Banlieue ging. Ic h wollte bei Monsieur Saïd übernachten, aber er hat mir nich t aufgemacht. « »Warum nicht? « »Keine Ahnung. « »Und was willst du noch hier? Du solltest verschwinden. Wen n dich jemand erwischt. « »Ich habe darüber nachgedacht, was mein Großvater gesag t
hat«, ignorierte Noah ihre Worte. »Wir dürfen nicht zulassen, dass der Mann dich verfolgt. Es gibt nur eine Möglichkeit. Wir müssen ihn verfolgen.« »Aber er ist weg«, sagte Gina. »Und wenn er wiederkommt?« Gina lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ja, sie hatte seinen Blick gesehen. Er war böse und böse Menschen gaben nicht einfach auf. »Hier hat alles angefangen.« Noah setzte sich auf die
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