Märchenmord
sich darum zu kümmern. Ohne auf Monsieur Saïd zu achten, lief sie zur Ladentür. Ihre Hand zitterte, als sie diese öffnete. Die Mittagshitze schlug ihr entgegen , doch ohne sich umzusehen, wandte sie sich draußen nach link s und ging in Richtung Metro . Ihr Herz schlug laut wie die Standuhr in Nikolajs Wohnung . Verließ der schwarze Mann jetzt das Haus? Sah er sie im richtigen Moment ? Noch nie waren ihr die Beine so müde erschienen . Würde er ihr folgen? Oder ahnte er, dass sie ihn herausforder n wollte? Sie wusste nicht, ob er hinter ihr war. Ein Schritt nac h dem anderen. Sie musste einfach geradeaus gehen . Und Noah ? Was, wenn er sie im Stich ließ ? Oder aufgehalten wurde ? Oder er verlor den Mann aus den Augen ? Eines war klar, im Theater wäre sie jetzt sicher. Aber es war zu spät . »Geh in jedem Fall langsam«, hatte Noah gesagt. »Schau dir lange die Fahrpläne an. Du bist fremd in Paris. Er soll denken, d u kennst dich nicht aus. « »Ich kenne mich auch nicht aus. « »Du nimmst die Metro und fährst zur Station Charles de Gaulle , dort steigst du in die Linie 1 Richtung Château de Vincennes . Am Place de la Concorde steigst du aus, gehst nach rechts un d fährst die Rolltreppen nach oben. Von dort siehst du schon de n Park. Geh durch den Haupteingang und ein Stück Richtun g Louvre. Rechts …«, er malte einen Kreis in den staubigen Bode n und in dessen Mitte einen Punkt, »… liegt das Café Orientale. « Noah hatte kurz aufgesehen. Sein Blick unter den dunklen Locken war konzentriert und ernst gewesen. »Verstanden? « Gina hatte genickt. » Oui, Johnny. « »Wie hast mich genannt? « »Ach nichts. «
*
Die Metro kündigte sich mit aufdringlichem Getöse an und kam laut quietschend vor Gina zum Stehen. Hinter ihr drängte sich die Menge. Doch sie sah und hörte niemanden. Sie lief einfach weiter im Vertrauen auf die Pläne eines marokkanischen Schuh-putzjungen, der seine Weisheiten aus dem Sand der Wüste ausgegraben hatte. Genauso gut könnte er aus dem Kaffeesatz lesen. Zischend öffneten sich die Türen. Passagiere strömten aus dem Wagen, schoben sich rücksichtslos an ihr vorbei und von hinten drängte die Menschenmenge ungeduldig, endlich einsteigen zu können. Sie hätte sich so gerne umgedreht, um zu sehen, ob der schwarze Mann ihr folgte, doch Noah hatte ihr eingeschärft: »Dreh dich nicht um. Er darf in keinem Fall Verdacht schöpfen. Denk daran, was mein Großvater gemeint hat. Du musst ihn verfolgen und nicht umgekehrt.« Ihr Herz schlug so laut, dass sie dachte, jeder würde sie anschauen, doch dann stellte sie fest, dass das Dröhnen in ihren Ohren von dem MP3-Player kam, den der Afrikaner neben ihr trug. Für einen Moment beruhigte sie sich, ging nach hinten und setzte sich mit dem Rücken in Fahrtrichtung an einen Platz, wo ein Franzose mit seiner Frau und zwei kleinen fröhlichen Kindern saß, die ihre Stofftiere fest an sich pressten. Eine glückliche Familie. Am liebsten wäre sie augenblicklich von ihnen adoptiert worden. Sie konnte nur hoffen, dass Noah dem schwarzen Mann wirklich folgte. Drei Menschen in Paris, die sich nicht aus den Augen ließen. An der Station Charles de Gaulle stieg sie, ohne warten zu müssen, in die Linie eins um und fuhr vier Stationen weiter zum Place de la Concorde. Dort verließ sie die Metro, wie Noah gesagt hatte. Als sie an die Oberfläche kam, schlug ihr die Hitze entgegen. Sie brannte auf ihrer Haut wie die Flammen vor zwei Tagen. Unwillkürlich schaute sie sich um, ob sie irgendwo ein Feuer sah. Der Dunst des Morgens war verschwunden. Jetzt erstrahlte die Sonne am blauen Himmel wie frisch poliert und gab ein falsches Versprechen auf einen schönen, friedlichen Tag. Sie schaute sich um. Alles sah anders aus, als Noah ihr beschrieben hatte. Sie hatte Mühe, sich zu orientieren. Erst nach einigen Minuten, in denen sich ihre Nervosität steigerte, sah sie die Gärten der Tuilerien. Sie ging darauf zu und wagte kaum, sich umzudrehen. Stand er hinter ihr? Starrte er sie mit seinem finsteren Blick an? Diesem Blick, der schwarz war wie das Dunkel der Nacht? Langsam wandte sie sich um, bemüht, den Blick auf den Haupteingang zu konzentrieren. Die Menschen verschwammen vor ihren Augen, als sie den Park durch das hohe vergoldete Tor betrat. Hier im Schloss hatte Marie-Antoinette die letzten Wochen vor ihrer Festnahme verbracht. Ihr Großvater hatte ihr das erzählt und Gina hatte damals ein leises Frösteln verspürt, als ob sie geahnt hatte,
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