Märchenmord
Kartoffelsack in Monsieur Saïds Lagerraum. Der Gemüsehändler hatte zwar keine Fragen gestellt, als er sie dort entdeckte, aber sie schien ihm auch nicht willkommen. Wo blieb Noah nur? Was ging in der Wohnung vor sich? Nein, Gina glaubte nicht an Geister, nicht an Omen. Sie fürchtete keine schwarzen Katzen, die ihren Weg kreuzten, und das Amulett, das Hakima ihr geschenkt hatte, war in ihren Augen nur eine Kette, mehr nicht. Aber dass das Nachbarhaus die Nummer dreizehn trug, das konnte nur Unglück bedeuten. »Allah, das war knapp.« Endlich erschien Noah und ließ sich stöhnend neben ihr auf einen zweiten Kartoffelsack sinken. »Er war es wirklich? Der schwarze Mann?« »Niemand anders«, brachte Noah noch immer außer Atem hervor. »Aber…« Gina lief ein Schauer den Rücken hinab. Wer war er, dass er durch Wände gehen konnte und niemand ihn sah, außer Noah und ihr. Am liebsten wäre sie wie Aladin in der leeren Wasserflasche verschwunden, die vor ihr auf dem staubigen Boden lag. Noah schüttelte den Kopf. » Mon Dieu, ich hatte wirklich Glück. Allah war mit mir.« »Dein Allah interessiert mich nicht.« »Allah kann nichts dafür«, bemerkte er nach einer kurzen Pause und fuhr fort: »Er stand plötzlich im Flur. Mit dem Rücken zu mir.« »Er kann durch Wände gehen«, murmelte Gina. »Nein.« Noah lachte kurz auf, aber es klang nicht wirklich unbeschwert. »Er ist mit einem einfachen Draht in die Wohnung gekommen. Jetzt wissen wir auch, wie er dein Handy stehle n konnte. « Die Angst griff nach Ginas Herz. Sie war dort schon fast z u Hause. Ihr wurde schlecht. Die Übelkeit wand sich wie ein e Schlange in ihrem Magen . Er war wiedergekommen . Er würde nicht aufgeben . Er hatte seine Augen überall. Sein böser Blick verfolgte sie . »Hat er dich gesehen?«, fragte sie Noah, der noch immer schwe r atmete vom Laufen . »Nein, ich habe es gerade noch durch das Fenster in der Küch e geschafft. « »Er verfolgt mich! Wusste, wo ich bin!« Wie konnte sie nur dafür sorgen, dass diese Panik aus ihrer Stimme verschwand. Si e sprach nicht, sie quiekte so laut, dass Monsieur Saïd aus de m Laden zu ihnen herüberschaute . Noah legte seine Hand auf ihre Schulter. »Ich lass dich nicht i m Stich. « Tränen traten ihr in die Augen. »Du musst mir nicht helfen« , sagte sie und dachte gleichzeitig: Lass mich nicht allein . »Hakima hat gesagt, ich soll auf dich aufpassen. « »Hakima? « »Ja, und glaub mir, wenn Hakima etwas will, dann bekommt si e es auch.« Er verzog das Gesicht, als ob er seine Schwester meh r fürchtete als den schwarzen Mann . »Aber wie willst du mir helfen? Das kann nur die Polizei. « »Nein, beruhige dich. Ich habe nachgedacht. « Dann erklärte er, was er sich ausgedacht hatte. Als er fertig war , sagte Gina: »Das kann ich nicht. Ich habe Angst. « »Natürlich hast du Angst, aber wie mein Großvater immer sagt : ›Nur die Wüste ist furchtlos.‹ «
Aber sie waren nicht in der Wüste. Sie waren in Europa. Mitte n in Paris. Da galten andere Gesetze . Plötzlich stand Monsieur Saïd in der Tür und sagte etwas au f Arabisch zu Noah, der daraufhin mit den Schultern zuckte . »Was hat er gesagt? « »Ich soll hier nicht herumsitzen, sondern mich um mein Geschäft kümmern. Was ist nur mit dem los? Er ist doch sons t nicht so.« Er erhob sich. »Aber wir müssen sowieso gehen. «
*
Monsieur Saïd ließ Gina nicht aus den Augen, als sie am Fenster des Ladens stand. Sie beobachtete Noah, wie dieser den Rollstuhl über die Straße schob und dann vor dem Haus gegenüber stehen blieb. Hin und wieder grüßte er jemanden, doch niemand würde vermuten, dass er das Haus mit der Nummer dreizehn nicht eine Minute aus den Augen ließ. Sobald der schwarze Mann aus der Tür kam, würde Noah anfangen, Kunden anzusprechen, als sei er auf einem Basar in Marrakesch. Das war ihr Signal. Eine Frau auf weißen High Heels näherte sich mit raschen Schritten. Sie trug ein cremefarbenes Kostüm. In ihrer Handtasche saß ein kleines Hündchen mit einer rosa-weiß gepunkteten Schleife um den Hals. Nur der Kopf war zu sehen. Die Frau ging an Noah vorbei. Er beachtete sie zunächst nicht. Dann jedoch begann er, ihr plötzlich nachzulaufen, zog sie an der Jacke. Der Hund kläffte so hysterisch, dass die Tasche hin und her wackelte, als sei sie lebendig. War das ihr Zeichen? Ja. Noah redete und redete. Er hob die Hände zum Himmel. Die Frau würde jeden Augenblick um Hilfe schreien. Doch Gina hatte keine Zeit,
Weitere Kostenlose Bücher