Märchenmord
Tausendundeiner Nacht vorgekommen war, erschien ihr jetzt wie eine dunkle Gruft. Die Wände, die Zimmerdecke, die Möbel und was noch von ihnen übrig war, alles war kohlrabenschwarz und mit einer rußigen Schicht überzogen. Die Lampen ausgebrannt. Die Fensterscheiben zersplittert. Der Fußboden mit Asche bedeckt. Die Teppiche nur schwarze Matten. Auf denen konnte keiner mehr fliegen. Dazu kam das Löschwasser. Der Holzboden wölbte sich vor Feuchtigkeit. Es roch modrig. Über dem ganzen Raum hing der Gestank einer Biotonne. Noah schien diese Luft nichts auszumachen. Er stand im Raum und sah sich um. Dann bückte er sich. »Was ist los?« Er hob einen verkohlten Gegenstand auf und hielt ihn ihr entgegen. Sie trat einen Schritt näher. »Was ist das?« »Sieht aus wie geschmolzenes Plastik.« »Na und?« Noah zuckte anstelle einer Antwort mit den Schultern und fuhr mit dem Schuh über den Fußboden. Wieder bückte er sich, um etwas aufzuheben. Es sah aus wie verkohltes Holz. Er brach es in der Mitte auseinander. »Wenn mich nicht alles täuscht, dann war das einmal Fladenbrot! Genauso sah jedenfalls das Brot aus, das Hakima vor Kurzem gebacken hat. Steinhart und verkohlt. Wie schwarzer Marmor aus dem Atlasgebirge. Einfach ungenießbar.« »Ist Hakima schon seit ihrer Geburt…?«
»Nein, das war ein Unfall. Noch in Marokko. Mit dem Auto. Deshalb sind wir nach Frankreich gekommen. Meine Eltern haben gehofft, dass sie hier gesund wird. Aber dann ist mein Vater gestorben und wir haben jetzt kein Geld für die Ärzte.« Er schwieg einen Moment und fuhr fort: »Aber ich werde Medizin studieren und dann kann ich ihr helfen.« Noah sagte das mit viel Überzeugung. Gina fragte sich, wie ihm das gelingen wollte ohne Papiere, ohne Pass, ohne Geld, dennoch erwiderte sie: »Du schaffst das bestimmt.« Doch er hörte nicht zu, sondern betrachtete neugierig das geschmolzene Plastik in seiner Hand. »Ich glaube, das war ein Kanister. Der obere Teil ist verbrannt, der untere…« Dann hob er plötzlich den Kopf und lauschte. Gina hörte im Treppenhaus Schritte. Instinktiv senkte sie die Stimme. »Und was bedeutet das?« »Vielleicht war Wasser drinnen. Wasser und Brot. So etwas essen doch Gefangene, oder?« »Gefangene? Du meinst…« Noah zuckte mit den Schultern. »Warum sollte sonst niemand wissen, dass das Mädchen hier gewohnt hat? Dass sie existierte?« Draußen im Flur hörten sie jemanden vor der Tür haltmachen. Entsetzt sah Gina Noah an. Er winkte ihr zu. So leise wie möglich folgte sie ihm in den Flur. Der Fußboden knarrte. Der Türgriff bewegte sich langsam. Noah ging in die Knie und schlich zur Tür. Gina folgte ihm, wobei sie über eine der Dielen stolperte. Das Brett war lose, stellte Gina fest. Sie bückte sich, um die Diele zurück in die Lücke zu schieben, als ihre Hand auf etwas stieß. Erschrocken zog sie sie zurück. Es fühlte sich an wie … wie Spinnweben. Etwas schien unter den Dielen vor. Gina hob das Holz hoch. Vor ihr lag ein blaues Bündel. Unter einem durchsichtigen Stück Stoff, der leuchtete wie der azurblaue Himmel über dem Meer, blitzte etwas Weißes auf. Gina begann, es abzutasten. Es knisterte leise wie Papier. »Pst«, zischte Noah und schob sich langsam an der Tür hoch, um durch den Späher zu schauen. Gina hielt inne. Der Türgriff bewegte sich erneut. Etwas wurde ins Schloss gesteckt. Jemand versuchte, in die Wohnung zu gelangen. »Er ist es«, flüsterte Noah, noch immer das Auge auf dem Türspäher. »Der schwarze Mann. Wir müssen verschwinden.« Ohne zu überlegen, griff Gina nach dem Stoffbündel und stopfte es mit zitternden Händen in den Rucksack, während Noah kaum hörbar murmelte: »Klettere durch das Fenster und warte im Laden von Monsieur Saïd auf mich.« »Aber wie kann er wissen, dass wir hier sind?« Gina bekam fast kein Wort heraus. Noah antwortete nicht, sondern hob den Finger an den Mund. Dann gab er ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie verschwinden sollte. Nein. Nicht alleine. Sie wollte nicht alleine gehen. »Aber du…« Er kroch zu ihr zurück und schaute sie eindringlich an. »Er sucht dich, nicht mich. Geh über die Hinterhöfe. Da gibt es eine direkte Verbindung. Ich komme gleich nach. Geh!« Noah schob sich langsam zurück zur Tür, während Gina in die Küche lief, sich durch das schmale Fenster zwängte und die Hintertreppe hinunterrannte.
•
Sechzeh n
G ina fühlte sich, als säße sie auf heißen Kohlen, doch es war nur ein ungemütlicher
Weitere Kostenlose Bücher