Märchenmord
dass auch ihr hier einmal große Gefahr drohen würde. »Geh in das Café«, hatte Noah gesagt. »Setz dich, bestell etwas, der Kellner bringt es, du nimmst einen Schluck, stehst auf und gehst zur Toilette. Dort gibt es wie immer in Paris einen Hinterausgang. Ich erwarte dich gegenüber. Da ist ein Dickicht, in dem man sich prima verstecken kann.« »Und dann? Was machen wir dann?« »Ein arabisches Sprichwort sagt, das Kamel denkt nur an die nächste Oase.« »Wir sind hier aber in Paris und nicht in der Sahara! Und deine verdammten Sprichwörter kannst du dir sonst wohin stecken.« Noah hatte nur die Hände ausgebreitet, als wollte er sagen, alles liegt in Allahs Händen, und nun war Gina hier, in den Gärten der Tuilerien, voller Panik, dass sie verfolgt wurde. Von einem Mann, der bereits ein Mädchen getötet hatte. Und für einen Moment fühlte sie einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen, trotz der Mittagssonne. Sie zitterte. Ein Wunder, dass niemand ihre Zähne klappern hörte. Langsam ging sie an den Tischen vorbei, an denen Grüppchen von Männern saßen, Tässchen mit Mokka schlürften, rauchten, Zeitung lasen und sich lautstark unterhielten. Sie alle sahen aus, als seien sie mit dem schwarzen Mann verwandt. Alles Doppelgänger. Sie suchte sich einen Platz im hinteren Teil des Cafés, wo eine Gruppe junger Leute, offensichtlich Touristen, in ihren Reiseführern blätterten. »Un coca«, sagte Gina zu dem Kellner und bemühte sich, nicht allzu aufgeregt zu wirken. Würde nur ihr Herz nicht so laut schlagen. Wäre doch nur alles nicht passiert. Nicht durchdrehen, Gina, sagte sie zu sich selbst. Ein Löwe leiht dem anderen nicht seine Zähne. Noah hatte es ihr erklärt. Jeder musste seine Kämpfe alleine ausfechten. Konzentriere dich einfach auf den nächsten Schritt. Der Kellner brachte ihre Cola. Sie nahm einen Schluck aus dem Glas. War genug Zeit vergangen? Ihre Knie zitterten. Der Boden bewegte sich. Der ganze Raum war in Bewegung, als sie den kleinen Flur Richtung Toilette ging. Die Erde schwankte. Niemand beachtete sie. Der Hinterausgang war nicht versperrt. Sie fand sich neben den Mülltonnen des Cafés wieder. Als sie wieder an der Vorderseite auftauchte, sah sie gegenüber ein dichtes Gebüsch, das einen Steinsockel überwucherte. War es das Dickicht, von dem Noah gesprochen hatte?
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Siebzeh n
G ina rannte auf die Sträucher zu, als eine Hand ihren Ar m packte, ihn fest umklammerte und sie zur Seite zog . »Kopf runter!«, hörte sie ein Flüstern. »Er kann dich sonst sehen! « Automatisch duckte sie sich hinter den Steinsockel, wo Touristen ihre Initialen hinterlassen hatten .
Paul liebt Monique.
Das Herz sprach nicht gerade von einer glücklichen Liebe. Der schwarze Pfeil, der es in der Mitte traf, schien ein entsetzliches Ende zu prophezeien. »Salut«, sagte Noah und lächelte. »Das hast du gut gemacht! Du hast nicht eine Sekunde gewirkt, als wärst du nervös oder als ob du Angst hättest. Er war nur wenige Schritte hinter dir.« Als Noah bemerkte, dass Gina erneut blass wurde, fügte er hinzu: »Und ich nur wenige Schritte hinter ihm. Wie drei Kamele in einer Karawane.« »Er ist mir tatsächlich gefolgt?« Gina konnte nicht aufhören zu reden. Die Spannung der letzten halben Stunde, die Ungewissheit, ob sie beobachtet wurde, die Panik, Noah könnte sie im Stich lassen … »Ich kann das nicht mehr. Immer diese Angst. Ich hab gedacht, ich mach mir in die Hose. Ich will zurück. Das hat doch alles keinen Sinn. Was weiß dein Großvater schon, wie es in Paris zugeht. Alle seine Weisheiten, die helfen einem hier nicht weiter.« »Trink!« Noah reichte ihr eine riesige Wasserflasche.
Das Wasser kühlte ihre Angst ab. »Wo ist er jetzt? « »Im Café und er wundert sich vermutlich, warum du nicht vo n der Toilette zurückkommst. Mal sehen, wie klug er ist, wi e schnell er begreift, dass du ihn hereingelegt hast. Wir warten , bis er die Geduld verliert und das Café verlässt. «
*
Wenn Gina ehrlich war, dann war der Beruf des Detektivs megalangweilig. Es war ein Job für jemanden, dem die Ewigkeit nichts ausmachte wie ihrem Religionslehrer. Sie saßen auf dem heißen Asphalt in der brennenden Sonne. Die Hitze knallte ihr aufs Haar. Wenn es wirklich aus Stroh war, dann würde es jeden Moment Feuer fangen. Noah schien das nichts auszumachen. Okay, er war ein Kind der Wüste und vermutlich andere Temperaturen gewohnt. Entspannt kaute er einen Kaugummi, nahm ab und zu einen Schluck von
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