Märchenmord
verband . Bis ihre Großmutter starb, damals war sie sechs Jahre alt gewesen, hatte sie hier mit ihren Eltern jeden Sommer verbracht . Von hier aus waren sie in das Ferienhaus in Südfrankreich aufgebrochen. Ihre Erinnerungen waren mit Sonne, Strand, blauem Himmel und einer großen Familie verknüpft. Dann star b Grand-mère und ihre Mutter entzweite sich mit ihrem Vater . Aber warum? Warum hatten sie sich gestritten? Es war Zeit , dass sie den Grund dafür erfuhr . Und wenn Grand-père nicht zu Hause war ? Was, wenn er da war ? Würde er überhaupt mit ihr sprechen wollen ? Würde er sie erkennen ? Und hatte er sich verändert? Oder war er noch immer derselb e wie vor acht Jahren. Als Arzt war er sehr beschäftigt, und wen n sie zu Besuch waren, kaum zu Hause gewesen, aber Gina hatt e nicht vergessen, wie er ihr ab und zu über den Kopf strich, si e hochnahm oder Fragen stellte, wenn sie alleine waren. Er gin g mit ihr am Ufer der Seine spazieren, wo sie nie viel sprachen , aber manchmal waren sie stehen geblieben und hatten hinübe r zum Eiffelturm geschaut . Vielleicht besaß Hakima hellseherische Fähigkeiten, aber sie , Gina, nicht. Sie konnte sich auch nicht auf einen Allah stützen , aber sie hatte etwas anderes: Mut . O.k., es war der Mut der Verzweiflung, aber er zählte trotzdem . Da stand der Name auf dem Klingelschild: Madame und Monsieur Bernard. Mon Dieu , war sie aufgeregt. Sie würde ih n gleich sehen. Ihren Großvater. Vor Aufregung ballte sie di e Fäuste. Wenn ihre Mutter das erfuhr, war die Hölle los. Doc h zum Teufel, sie war alt genug, ihre eigenen Entscheidungen z u
treffen. Wie Hakima es gesagt hatte. Es war ihre Entscheidung , ob sie ihren Großvater besuchte oder nicht. Sie holte tief Luf t und drückte auf den Klingelknopf. Sie wartete. Sie drückte erneut. Er musste einfach da sein. Bitte ! Plötzlich hörte sie ein Krachen in der Sprechanlage und ein e tiefe Stimme: »Oui? « Er war es ! Grand-père ! Es war seine Stimme. Immer ein wenig streng. Immer kurz angebunden. Er war keine Fantasiegestalt. Er war Wirklichkeit . Sie hatte tatsächlich einen Großvater in Paris . Was sollte sie sagen ?
»Salut.« »Allô?«
»Grand-père, ich bin es, Gina. « Keine Antwort . Hatte er sie nicht verstanden? Wie alt war er jetzt? Vielleich t hörte er schlecht . »Gina, deine Enkelin, petite-fille«, rief sie lauter, den Mund fes t an die Sprechanlage gepresst . Dann hörte sie den Summer. Sie warf sich gegen die Tür und betrat das Gebäude . Gina holte tief Luft. Dieser Geruch im Hausflur. Alles noch wi e damals. Sie rannte die Treppe hoch . Und da stand er im dritten Stock in der Tür. Unverändert. Wi e sie ihn in Erinnerung hatte. Anzug, Krawatte, weißes Hemd . Nein. Nicht ganz. Seine Haare waren weniger geworden, weiße r und hier und da besaß er eine Falte mehr, aber sein Lächeln wa r immer noch dasselbe. Sie hatten sich schon immer ohne viel e Worte verstanden und vielleicht war das das Problem ihre r Mutter. Dass diese zu viel redete . Freute er sich, sie zu sehen ?
»Hallo«, sie brachte kaum einen Ton heraus . »Bonsoir, ma petite«, sagte er . Gina brach in Tränen aus . Da nahm er sie endlich in die Arme .
*
»In was für eine Geschichte bist du nur geraten?« Ihr Großvater schüttelte den Kopf, als Gina ihren Bericht beendete, und nach einigen Minuten des Nachdenkens fragte er: »Und wo bist du den ganzen Tag gewesen? Deine Mutter hat angerufen.« Er strich sich über die weißen Haare. Seine Hand zitterte. »Maman? Ihr habt miteinander gesprochen?« »Sie sucht dich in der ganzen Stadt, sie ist halb wahnsinnig vor Angst.« »Aber warum…?« »Hast du den Zettel nicht gelesen, den sie dir geschrieben hat?« »Was für ein Zettel?« »Er soll in der Küche liegen. Sie hat so schnell gesprochen. Wie immer.« »Ich habe keinen Zettel gesehen.« »Wir müssen sie anrufen. Sie war völlig außer sich. Es war die pure Verzweiflung, dass sie hier bei mir angerufen hat«, stellte er traurig fest. »Fast so, als sei ich ihr letzter Ausweg.« »Aber immerhin hat sie doch angerufen«, versuchte Gina plötzlich, ihre Mutter zu verteidigen. Man konnte ja gegen sie sagen, was man wollte, sie war ein bisschen chaotisch, sie konnte nicht kochen, sie war auf diesem seltsamen Selbstfindungstrip, aber sie war niemand, der nachtragend war. Wenn sie also Grandpère all die Jahre böse gewesen war, musste zwischen den beiden etwas vorgefallen sein, das wirklich schlimm war. Plötzlich war sich Gina
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