Märchensommer (German Edition)
blickte darunter. Nichts. Doch— Oh mein Gott —da lag ein Stück zusammengeknülltes Papier unter meinem Nachttisch. Der Engel hatte mir tatsächlich ein Souvenir dagelassen.
Mein Herz legte gerade einen Sprint ein, als ich das Knäuel aufhob und auseinanderfaltete. Darauf erkannte ich zwar meine eigene Handschrift, doch der Brief oder besser gesagt die Liste an sich rief keine Erinnerungen wach.
Die Überschrift lautete: Julians gruselige Fähigkeiten . Was für ein seltsamer Titel. Aber den Namen fand ich schön. Julian. Hieß so etwa der Engel von vorhin? Der Mann aus meinen Träumen?
„Injiziert Glücksgefühl …“, las ich die erste Zeile halblaut. Plötzlich begann es in mir zu kribbeln und zu kitzeln, bis sich mein Bauch zu einem aufgeregten Knoten gewunden hatte. Das Gefühl schoss blitzschnell durch meinen ganzen Körper, bis hin zu meinen Ohren und den Zehen in der anderen Richtung.
„Erweckt den Drachen von den Toten. Kann fünf Meter hoch springen. Hat heute Ente wiederbelebt.“ Mit jedem weiteren Wort, das ich laut las, wurde ich wie auf einer rasenden Achterbahn in die Vergangenheit gesaugt. Ich erinnerte mich auf einmal an Dinge, die in den letzten Monaten wie unter einer dicken Baumwolldecke versteckt gewesen waren.
An dem Tag, an dem ich mit meiner Mutter nach Frankreich gekommen war, waren wir gar nicht nur zu zweit. Es war noch eine dritte Person im Bunde gewesen. Ein junger Mann. Er hatte im Flugzeug zwischen mir und Charlene gesessen. Seine Hand hatte meine berührt und dabei war ein unglaublich tolles Gefühl in mir entstanden. Als wäre ein mit den tollsten Süßigkeiten gefüllter Luftballon in mir geplatzt.
Dasselbe Gefühl stieg auch jetzt in mir hoch.
Julian.
Die Erinnerung war wieder da. Er war nach der Anhörung aus Abes Zimmer gekommen und hatte mich von den elenden Handschellen befreit. Einfach nur so. Später war er dann in mein Zimmer im Heim gekommen und hatte mich abgeholt. Oh Mann, hatte er da gut gerochen! Und er war es auch, der mich zum ersten Mal mit hinaus auf den Balkon genommen hatte. Nirgendwo anders hatte ich mich jemals so sicher gefühlt wie in seinen Armen.
Vor Aufregung rang ich gerade genauso nach Luft wie Lou-Lou, wenn sie mir in den Weinbergen nachjagte. Ich las die Zeilen wieder und wieder und jedes Mal kam ein neuer Schwall Erinnerungen damit hoch. Am Ende wusste ich wieder genau, was in jenen drei Wochen passiert war. Es war die beste Zeit meines Lebens gewesen. Denn ich hatte sie mit Julian verbracht.
Dem Engel.
„Oh Mann, wie konnte ich ihn nur vergessen?“, fragte ich mich selbst entsetzt. Doch auch das war nicht länger ein Geheimnis. An dem Tag, an dem meine Mutter gestorben war, hatte Julian mir mit einer einzigen Berührung alles genommen, was mir wichtig war. Er ließ mich ausgehöhlt und unwissend zurück. So lange war in mir nur Leere gewesen.
„Was hast du mir angetan?“ Meine Lippen zitterten. Acht Monate lang war ich einer Depression verfallen, die mich ganz und gar verschlungen hatte. Ich hatte an meinem Verstand gezweifelt, obwohl es tatsächlich Julian gewesen sein musste, der nachts unten auf dem Klavier für mich gespielt hatte. Immer und immer wieder. Und wahrscheinlich hatte er auch gestern Morgen irgendwie das Kleid aus meinem Schrank genommen und vor den Spiegel gehängt. Verdammt, nun erinnerte ich mich auch wieder, warum ich es überhaupt hatte. Es war ein Geschenk von ihm gewesen … für einen einzigen Tanz.
Ich schlug meine Hände vor meinen Mund und erstickte ein Schluchzen vor Freude und Entsetzen. Da fiel mein Blick auf das Ende der Liste, die vor mir auf der Decke lag. Ganz unten hatte jemand eine Zeile in einer schwungvollen Handschrift hinzugefügt.
Liebt dich mehr, als er jemals verstehen wird.
Mein Herz purzelte vor Freude wild herum. Das erste glückliche Lächeln seit einer halben Ewigkeit zog meine Mundwinkel weit nach oben. Julian hatte mich nie wirklich verlassen. Mit diesen unscheinbaren Handlungen über die Monate hinweg, wollte er wahrscheinlich einfach nur sicherstellen, dass auch ich ihn nicht ganz vergessen würde. Selbst wenn mir nichts geblieben war, mal abgesehen von seinem Schatten in meinen Träumen.
Ich schlug die Decke zur Seite, sprang aus dem Bett, schlüpfte in meine Jeans und zog mir schnell ein T-Shirt über. Barfuß sauste ich dann über den Flur in sein damaliges Zimmer. Auf der Türschwelle blieb ich stehen und hatte seinen Namen auf den Lippen. Doch er war nicht hier. Das
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