Märchensommer (German Edition)
Zimmer stand leer, wie immer.
Mein Herz zog sich in seine tiefe Höhle zurück.
Mit zaghaften Schritten ging ich durch die Tür und ließ dabei meinen Blick über die Einrichtung schweifen, die so lange Zeit unbenutzt geblieben war. Doch Julian hatte viele Wochen in diesem Zimmer gewohnt. Seine Aura musste einen Abdruck hinterlassen haben, der mich nun von allen Seiten einschloss.
Vor seinem Bett blieb ich wie angewurzelt stehen, denn erst jetzt sah ich, dass etwas auf seiner Decke lag, das ich damals gemeinsam mit ihm vergessen hatte. Ein grauer Kapuzensweater.
Ich setzte mich auf die Bettkante und zog den Sweater langsam auf meinen Schoß. Ich wollte so gerne daran riechen, doch ich hatte Angst davor, welche Sehnsucht sein Duft mit sich bringen würde. Nachdem Julian offensichtlich nicht wirklich hier war, sondern nur den Schleier von meinem Erinnerungsvermögen genommen hatte, war ich unsicher, ob ich den Schmerz, der damit verbunden war, auch ertragen konnte.
Eine ganze Weile starrte ich die Jacke einfach nur an. Schließlich hob ich sie langsam an mein Gesicht und rieb meine Wange sanft an dem Stoff. Als mir der erste Schwall von Julians wunderbarem Geruch in die Nase stieg, platzte eine Seifenblase in mir, die—wie es sich anfühlte—mit purer Glückseligkeit gefüllt war. Ich kannte dieses Gefühl. Und, oh, wie ich es vermisst hatte!
Ich vergrub mein Gesicht tiefer in dem Sweater. Ozean. Sonne. Warmer, wilder Wind. Ein Kuss. Ich versank in einer wunderbaren Flut aus immer neuen Erinnerungen. Eingehüllt von seinen Flügeln hatte die Welt aufgehört sich zu drehen. Er hatte mich an einen Ort zwischen den Augenblicken gebracht, um in einem ganz besonderen Moment zu verweilen.
„Du fehlst mir so“, hauchte ich in den Sweater. Jedes einzelne Wort schmerzte in meinem Hals. Nun wurde mir auch endlich klar, warum ich selbst nach so langer Zeit nicht über den Tod meiner Mutter hinweggekommen war. Zusammen mit ihr hatte ich auch die Liebe meines Lebens verloren.
Tränen gruben sich nach oben, doch ich presste meine Lippen aufeinander und blieb stark. Stattdessen schob ich meine Arme durch die Ärmel des viel zu großen Sweaters und nahm noch einmal einen tiefen Atemzug.
Alles hätte ich in diesem Moment gegeben, nur um ihn noch einmal spüren zu können, um seine Stimme noch einmal zu hören oder sein schiefes Grinsen noch einmal zu sehen.
„Ich liebe dich“, sagte ich leise und kniff die Augen zu. „Das habe ich immer getan. Vom ersten Tag an, als du mich alleine im Korridor hast sitzen lassen. Und du kannst mir meine Erinnerungen nehmen, so oft du willst … es wird sich nie etwas daran ändern.“
„Wurde auch langsam Zeit, dass du das endlich einsiehst.“
Ich schnappte nach Luft und sprang von Julians Bett auf. Meine Wirbel knackten in meinem Nacken, weil ich meinen Kopf überhastet zur Balkontür drehte, von wo seine Stimme gekommen war.
Julian saß draußen auf dem Geländer. Seine Füße baumelten in der Luft, genau wie in alten Zeiten.
Doch das war ganz unmöglich!
Na bravo. Jetzt schnappte ich offenbar völlig über.
Julian hielt mich mit seinem durchdringenden Blick gefangen. Dann zog er herausfordernd eine Augenbraue hoch. „Was ist? Willst du nicht zu mir rauskommen?“
Zögernd schüttelte ich den Kopf. „Das bilde ich mir nur ein. Das bilde ich mir nur ein …“
Julians Stirn legte sich in missmutige Falten und seine Mundwinkel kippten nach unten. „Komm schon, Jona. Du hast mich jetzt nicht ernsthaft so lange warten lassen, nur damit du mich am Ende als Hirngespinst abtust.“
Seine Stimme klang so echt. Und auch sein Körper wirkte nicht mehr durchsichtig wie vorhin an meinem Bett. Er hatte Jeans und ein weißes Hemd an. Welcher Geist würde schon so etwas tragen?
Aber, Kreuzdonnerwetter … was, wenn ich gerade meiner eigenen Halluzination zum Opfer fiel?
Dann sollte es verdammt noch mal eine saugute sein!
Ich hörte das laute Geräusch, als ich meinen Bammel hinunterschluckte, und bewegte mich langsam auf ihn zu. Ein Fuß vor den anderen. In der Balkontür blieb ich stehen und hielt mich am Türrahmen fest, um nicht aus den Latschen zu kippen, falls Julian wirklich wirklich war.
„Was hat dich zurückgebracht?“ Meine Stimme hatte Reißaus genommen. Falls er also nicht von den Lippen lesen konnte, hatte er mich wohl kaum verstanden.
„Du. Als du deine Gefühle endlich akzeptiert hast.“ Er lächelte wieder sanft. „Am Ende hast du ja doch gelernt zu
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