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Märchensommer (German Edition)

Märchensommer (German Edition)

Titel: Märchensommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katmore
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gelbe Kleid anziehen musste, mit dem Erinnerungen verbunden waren, die ich einfach nicht zu fassen bekam. Als läge ein Schleier über meinen Gedanken.
    Es war zum Kotzen.
    „Hilfe … Mom … ich werd doch nicht verrückt, oder?“ Ich schnitt eine fürchterliche Grimasse. Schon allein die Tatsache, dass ich mich auf dem Friedhof mit meiner verstorbenen Mutter unterhielt, sollte mir Antwort genug sein. Auch wenn die Gespräche meist ziemlich einseitig ausfielen.
    Im Augenwinkel sah ich, wie sich mir von links jemand näherte. Ich fuhr erschrocken hoch und erwartete dabei, gleich in das schrumpelige Gesicht der alten Dame mit dem Haarknoten zu blicken, die regelmäßig hierher kam und sich um das Grab ihres kürzlich verstorbenen Sohnes kümmerte. Der alte Giftzwerg sah mich jedes Mal an, als wäre ich eine Fliege in ihrer Suppe, wenn sie mich dabei ertappte, wie ich hier Selbstgespräche führte.
    Aber da war niemand. Ich rieb mir die Augen und stöhnte laut. „Was passiert hier bloß mit mir?“ Zwischen leicht gespreizten Fingern hindurch schielte ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch durch die Gegend. „Mom …? Du hängst doch hier nicht immer noch rum, oder?“
    Ich sollte besser aufhören, mit mir selbst zu reden oder solchen Quatsch überhaupt nur zu denken, sonst würde mich Marie früher oder später doch noch zum Psychiater schleifen.
    Aber irgendetwas Seltsames ging hier vor sich. Etwas, das außer mir niemand zu bemerken schien. Und warum träumte ich immer noch jede Nacht von einem atemberaubend hübschen jungen Mann, der mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gehen wollte?
    Weil du einfach einen an der Waffel hast, deshalb!
    Ja, so war es wahrscheinlich. Ich rückte die Blumen in der Vase zurecht, streichelte noch einmal über die gebogene Kante des Grabsteins und sagte leise: „Bis morgen.“
    Es war Sonntag, und ich hatte an diesem Tag nichts Großartiges vor, also verschanzte ich mich wieder einmal die meiste Zeit in meinem Zimmer und kam nur zu den Mahlzeiten kurz runter. Nach dem Abendessen, bei dem ich die Hühnchenbrust hauptsächlich missmutig angestarrt und mit der Gabel gepiekt, jedoch nicht viel davon gegessen hatte, lockte mich ein seltsamer Impuls hinaus auf den Balkon.
    Vor einiger Zeit war ich es leid geworden, wegen meiner Höhenangst die Weinberge abends immer nur von meinem Fenster aus sehen zu können. Daher hatte ich begonnen, mich zu zwingen, diese verdammte Panik zu überwinden. Tag für Tag machte ich einen weiteren kleinen Schritt hinaus. Funktionierte ganz gut. Die ersten beiden Wochen hatten meine Knie zwar geschlottert wie die eines alten Mannes, doch nun konnte ich mich über das Geländer lehnen, ohne dass mir dabei schlecht wurde. Wer hätte das gedacht?
    Neben meinem Zimmer im ersten Stock gab es ein Gästezimmer. Eine Tür führte von dort ebenfalls hinaus auf meinen Balkon. An warmen Tagen stand diese Tür immer offen. Marie machte sie wohl jeden Morgen auf, um frische Luft in den voll möblierten Raum zu lassen—gerade so, als würde jeden Tag jemand einziehen wollen. Aber ich war die Einzige, die hier oben lebte.
    Mir gefiel die dunkelblaue Bettwäsche, die sie gestern ausgesucht und über die Decke und das Kissen gezogen hatte. An manchen Tagen saß ich stundenlang auf diesem Bett, das viel größer war als mein eigenes, zog die Knie an meine Brust und wippte wie in Trance vor und zurück.
    Als ich an diesem Abend durch die tanzenden Vorhänge in das Zimmer blickte, erfüllte mich eine Hoffnung, die ich nicht beschreiben konnte. Eigentlich war es keine wirkliche Hoffnung, sondern eher eine Erwartung … oder eine Sehnsucht.
    Vielleicht fehlte mir hier oben einfach ein wenig Gesellschaft, wer wusste das schon? Seit meine Mutter gestorben war, fühlte ich mich viel zu oft allein. So wie an den Tagen im Jugendheim. Und dann gab es Tage, da fühlte ich mich sogar noch einsamer …
    Ich schloss die Augen. In meinen Gedanken sah ich diese sanften blauen Augen, die aus dem Zimmer zu mir heraus blickten. „Wer bist du?“, flüsterte ich, als die letzten Sonnenstrahlen des Tages meine Wange streichelten.
    Wenn ich doch nur meinen Kopf an einen Drucker anschließen könnte. Dann würde ich ein Bild von diesem wunderhübschen jungen Mann ausdrucken und könnte es die ganze Zeit ansehen.
    Müde von einem weiteren langen Tag voller Rätsel stieg ich aus dem gelben Kleid und hängte es zurück in den Schrank. Mein weiches Kissen wartete schon auf mich und binnen Minuten

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