Märchensommer (German Edition)
eindringlich in die Augen. In ihren spiegelte sich tiefes Mitgefühl. Für einen Sekundenbruchteil waren ihre Gedanken sogar so transparent, dass ich genau wusste, was sie als Nächstes sagen würde. Und ich wurde nicht enttäuscht.
„Ist das wieder so ein Fall wie damals, als das Klavier mitten in der Nacht von alleine gespielt hat?“
Ja. „Nein.“ Und nur weil damals außer mir niemand die Musik gehört hatte, hieß das noch lange nicht, dass niemand auf dem verdammten Flügel gespielt hatte. Mein Lied. Hallelujah. Die Melodie, die seit meiner Kindheit schon in meinem Kopf verankert war.
Nachdem ich in jener Nacht das Wohnzimmer leer vorgefunden und mir vor Angst fast die Seele aus dem Leib geschrien hatte, war Marie gekommen, hatte mich zurück in mein Bett gebracht und mir warme Milch mit Honig hergerichtet. „Du hast gerade erst deine Mutter verloren“, hatte sie dann leise gesagt, als sie sich zu mir ans Bett gesetzt hatte. „Da ist es ganz natürlich, dass dir dein Kopf manchmal Streich spielt. Du vermisst sie einfach und wünschst dir, sie wäre noch hier. Aber in ein paar Wochen wird alles besser, du wirst sehen.“
Wenn das doch nur gestimmt hätte.
Die Musik spielte weiter in meinem Kopf. Und ich wusste hundertprozentig, dass sie nur da stattfinden konnte—in meinem Kopf—denn ich hatte mir angewöhnt, den Klavierdeckel herunterzuklappen und zu verschließen, bevor ich zu Bett ging. Den kleinen Messingschlüssel nahm ich jede Nacht mit nach oben. Er glühte jedes Mal in meiner Hand, wenn ich hellwach in meinem Bett lag und mich voller Angst fragte, ob mit mir ernsthaft etwas nicht stimmte, während aus dem Wohnzimmer unter mir die lieblichste Klaviermusik an mein Ohr drang.
Doch wie an so vieles im Leben, gewöhnte ich mich über die Zeit auch daran.
Ich senkte meinen Blick und wich damit Maries durchbohrenden Augen aus, schmiegte meine Wange aber tiefer in ihre Hand. In all der Zeit, die ich schon hier verbracht hatte, waren sie und Onkel Albert mir ans Herz gewachsen wie richtige Eltern. Manchmal fiel es mir schwer, ihre Liebe zu erwidern, wenn die Traurigkeit an mir nagte wie Mäuse an altem Speck. Doch ich war dankbar, auch ohne Worte.
Ich drückte ihr einen Kuss auf die Handfläche und räusperte mich dann. „Ich werd noch mal runter zum Friedhof gehen und Mom besuchen. Soll ich auf dem Rückweg etwas von der Bäckerei mitbringen?“
„Das ist lieb, Schatz, aber ich war heute Morgen schon einkaufen.“ Sie erhob sich von der Liege, ging rüber zu ihrem Blumenbeet und pflückte eine junge Rose von einem der Sträucher. „Aber vielleicht möchtest du deiner Mutter ja die hier mitnehmen?“
„Natürlich.“
Der Spaziergang zum Friedhof dauerte nur wenige Minuten. Mittlerweile hätte ich den Weg schon mit verbundenen Augen gefunden. Ich konnte die genaue Anzahl der Schritte nennen, die von unserem Haus zur Kirche führten. Ich kannte jede kleine Unebenheit des Weges und wusste genau, wo sich bei Regenwetter Pfützen bildeten.
Wie immer war das große, schwere Gittertor geschlossen, als ich den Friedhof erreichte. Ich drückte es auf und es quietschte unheimlich. Der Kies auf dem Weg quer über das Gräberfeld sank unter meinen flachen Sandalen ein und knirschte. Ein kleiner, spitzer Stein fand irgendwie zwischen den Riemchen meines linken Schuhs hindurch. Er piekte mich in die Ferse. Erst schüttelte ich meinen Fuß, doch als das nichts half, stützte ich mich mit einer Hand gegen den Grabstein meiner Mutter und holte den Kieselstein mit dem Finger heraus.
Dann steckte ich die kleine Rose zu den weißen Lilien, die bereits in der Messingvase standen, und setzte mich seitlich auf die Marmorumrandung des Grabes. Mit zwei Fingern fuhr ich abwesend den eingravierten Schriftzug unter dem Namen meiner Mutter nach.
Mögen dich die Engel in den Himmel tragen.
Bis heute verstand ich nicht, warum, aber als der Steinmetz meine Tante gefragt hatte, was er in den Stein meißeln sollte, hatte ich ihn gebeten, diese Worte aufzuschreiben. Marie fand, dies sei eine wunderschöne Art Auf Wiedersehen zu sagen. Aber für mich hatte diese Zeile eine viel tiefere Bedeutung. Ich konnte nur nicht sagen, warum …
Es war wohl einfach nur ein weiteres der vielen Rätsel, die in den vergangenen Monaten mein Leben ausgemacht hatten. Schniefend blickte ich auf den Marmorstein, doch eigentlich sah ich viel weiter. Ins Nichts. Heute war es schlimmer als die meisten Tage. Und alles nur, weil ich dieses dumme
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