Märchensommer (German Edition)
Mannes. Ein abgetragenes Paar Jeans und eine schwarze Lederjacke waren nun da, wo ich zuvor geglaubt hatte, eine fließende Robe zu sehen.
Ganz offensichtlich mussten sie nun auch noch „wahnhafte Störungen“ zu meinem medizinischen Gutachten hinzufügen.
Seine Wangen waren glatt rasiert—ehrlich gesagt sah er so aus, als wäre ihm noch nie auch nur ein einziges Barthaar gewachsen—und sein Gesicht wies leicht kantige Züge auf. Im Gegensatz dazu standen seine sinnlichen Lippen. Als seine Mundwinkel langsam nach oben zu einem Lächeln wanderten, flatterte mein Herz wild in meinem Brustkorb umher, wie ein Spatz im Käfig. Goldblondes Haar mit noch helleren Strähnen fiel ihm über die Stirn in seine Augen und erinnerte mich an warme Milch mit Honig. Selbst ohne den mystischen Nebel von gerade eben ähnelte dieser junge Mann einer Mischung aus Mensch und Gott.
Heiliger Strohsack , was brachte denn einen Halbgott zu meiner Anhörung? Es war doch nur ein dämlicher Sweater gewesen!
Als er andeutungsweise eine Augenbraue hochzog, wusste ich, ich hatte alle Etikette vergessen und starrte ihn gerade unverschämt an. Mir wurde am ganzen Körper heiß und mein Gesicht spiegelte vermutlich gerade ein Erdbeerfeld wider.
„Was soll dieses Benehmen, Miss Montiniere? Ich erwarte Ihre Aufmerksamkeit!“ Abes Worte drangen von weit, weit her. Doch ich nahm ihn nicht wahr.
Diese saphirblauen Augen hielten mich in ihrem Bann. Niemals wieder wollte ich aus meinem persönlichen, kleinen Gefängnis entfliehen. Der Rest der Welt versank um mich.
Und dann schlängelte sich plötzlich eine knochige Hand um den Arm dieses jungen Gottes.
Kirschblüten? Warum roch es in diesem Raum plötzlich nach Kirschblüten? Der unverwechselbare Duft brachte mich zurück in die Realität. Wie lange war es wohl her, dass ich dieses Parfüm zuletzt gerochen hatte? Vielleicht drei Jahre? Vier? Nein, es mussten wohl schon fünf gewesen sein. Langsam ließ ich meinen Blick über die knochige Hand und den dünnen Arm hinauf gleiten. Panik breitete sich in mir aus. Doch es war zu spät, um wegzulaufen.
2. Ein kleines Problem
Richter Abes Zimmer begann plötzlich sich mit all den Menschen darin um mich zu drehen. Mir war, als hätte mich jemand in eine viel zu kleine Pappschachtel gesteckt und den Deckel über mir zugeknallt.
Meine Stimme bebte. „Wer hat dieses Miststück reingelassen?“ Ich zitterte am ganzen Körper, als ich Charlene Montiniere geradewegs in die Augen blickte.
„Sie sind hier bei Gericht, Miss Montiniere! Vergessen Sie das nicht!“, warnte mich der Richter scharf. „Ich erwarte, dass Sie sich angemessen benehmen!“
„Den Teufel werd ich tun!“, fauchte ich zurück, ohne meinen Blick von Charlene zu nehmen. „Diese Frau hat mich in ein Waisenheim gesteckt, als ich gerade mal fünf war. Sie hat sich nicht einmal nach mir umgedreht!“ Furcht schnürte mir den Hals zu. Wie wollte die Hexe diesmal mein Leben ruinieren?
Charlene gaffte mich stillschweigend an. Dunkle Ringe lagen tief unter ihren Augen. Sie hatte einen viel zu roten Lippenstift aufgetragen, der sich stark von ihrem leichenblassen Gesicht abhob. Ihr dunkles rotbraunes Haar war einst das perfekte Ebenbild von meinem gewesen, doch heute umrahmte es ihr Gesicht in kraftlosen matt-orangen Strähnen. Kurz gesagt, sie sah aus, als wäre sie durch die Hölle gegangen.
Gut. Ich hoffte, die Schlampe hatte genauso gelitten wie ich. Meinetwegen konnte sie in das Rattenloch zurückkriechen, aus dem sie gestiegen war. Und sie kam am besten gar nicht erst auf den Gedanken, etwas zu mir zu sagen. Dieses Recht hatte sie verloren, als ich fünf Jahre alt war.
Langsam hob sie eine zitternde Hand, so als ob sie mich über die fünf Meter hinweg, die zwischen uns lagen, anfassen wollte.
„Verreck’ in der Hölle, Charlene!“ Mit einem hasserfüllten Blick untermauerte ich meine Worte.
„Jona Montiniere! Ich verbitte mir dieses Benehmen in meinem Amtszimmer!“, brüllte Abe Smith. „Ich verstehe Ihre Vorurteile gegen Ihre Mutter, doch wenn Sie die Gründe für ihr Handeln hören, werden Sie Ihre Meinung vielleicht ändern.“
Niemals.
Eine einzige Minute länger im gleichen Raum mit meiner Mutter wäre eine Ewigkeit zu lang. Ich drehte mich zu dem alten Richter hinter seinem riesigen Tisch und salutierte provokant zum Abschied. „Mach’s gut, Abe. Ich verzieh mich.“
Das Geschrei hinter mir, um mich zur Ordnung zu rufen, war umsonst.
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