Märchenwald Mörderwald
so nahe wie nie. Sie wollte nicht aufgeben und nicht mehr zurück.
Noch mal rief sie den Namen ihrer Tochter. Danach gab es für sie kein Halten mehr.
Sie rannte in den Wald hinein und kümmerte sich nicht darum, ob ihr Mann ihr folgte oder nicht.
Der Förster blieb noch stehen. Er musste den Anblick seiner Tochter erst verdauen. Er hatte es bisher nicht für möglich gehalten, dass so etwas tatsächlich geschehen könnte.
Nun lagen die Dinge anders.
Ein Schrei drang aus seiner Kehle. Dann wühlte auch er sich durch das Unterholz und lief hinein in den finsteren Mörderwald...
***
Sir James, mein Chef, hatte mich gebeten, nach dem offiziellen Feierabend noch im Büro zu bleiben, da er etwas mit mir zu besprechen hatte. Suko, mein Freund und Kollege, brauchte nicht unbedingt dabei zu sein, was ihm gut passte, denn er war mit Shao verabredet. Sie und einige Freundinnen aus der Computer-Clique hatten sich in einem Biergarten getroffen, um den ersten richtigen warmen Tag auszunutzen.
Da Glenda Perkins, unsere Assistentin, ebenfalls verschwunden war, blieb ich allein im Büro zurück. Ich hatte die Tür zum Vorzimmer nicht geschlossen und würde deshalb sofort sehen, wer den Raum betrat.
Es lag kein besonders anstrengender Tag hinter mir. Es war mehr ein Absitzen der Stunden im Büro gewesen. Da hätte ich auch bei dem schönen Wetter spazieren gehen können.
Allerdings kannte ich andere Zeiten, und wenn ich daran dachte, dass mich Sir James sprechen wollte, dann breitete sich ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend aus. Denn immer dann, wenn mich Sir James allein und zu einer recht ungewöhnlichen Zeit sprechen wollte, lag etwas in der Luft. Da ging es dann meist um einen Fall, der nicht an die Öffentlichkeit dringen durfte, und darum, dass Sir James durch sein Eingreifen einem guten Bekannten einen Gefallen erweisen wollte.
Ich ging davon aus, dass es auch diesmal so sein würde, und war gespannt, was er mir zu sagen hatte. Eine Uhrzeit hatte er nicht genannt.
Lange musste ich nicht warten.
Er kam durch das Vorzimmer und tupfte dabei Schweiß von seiner Stirn. »Es ist mal wieder zu schnell warm geworden, John. Irgendwie spielt das Wetter verrückt.«
»Wie so oft in den letzten Jahren, Sir.«
»Sie sagen es.«
Der Superintendent schnappte sich einen Besucherstuhl und nahm darauf Platz. Er lächelte, bevor er seine Frage stellte. »Sie ahnen, um was es geht?«
»Ich kann es mir denken. Kein offizieller Fall, sondern mehr eine private Sache.«
»Sie haben ein gutes Gedächtnis.«
»Das gehört dazu.«
»Ja, dann werde ich Ihnen die Dinge mal offen legen. Ich sage Ihnen schon im Voraus, dass ich dazu keine Meinung habe, aber ich möchte meinen Clubfreund Sir Henry Britton nicht enttäuschen und werde Ihnen sagen, was ich von ihm hörte.«
»Da bin ich ganz Ohr.«
Sir James hielt sich nicht lange mit einer Vorrede auf. Er kam sofort zur Sache.
»Es geht um einen sprechenden Baum!«
Ich sagte nichts, pfiff aber durch gespitzte Lippen und schüttelte leicht den Kopf.
»Sie glauben mir nicht?«
»Doch, Sir. Ich bin sicher, dass man Ihnen das erzählt hat. Ich habe schon magische Veränderungen bei Bäumen erlebt, aber dass sie sprechen können, ist mir neu.«
Sir James nickte mir zu. »Das war es mir bisher auch. Aber Lord Britton hat es behauptet.«
»Dann hat er mit dem Baum gesprochen?«
»Nein, John, der Baum mit ihm.«
»Das ist allerhand! Hat er Ihnen auch erzählt, welch eine Beziehung er zu diesem Gewächs hatte?«
»Es ist eine Linde gewesen. Sie steht nicht allein, sondern befindet sich in einem Wald, den der Lord betreten hat, um die Asche seiner Schwester loszuwerden.«
»Pietät scheint nicht zu seinem Repertoire zu gehören.«
»Irrtum, John. Die Schwester wollte es so. Sie wollte, dass ihre Asche unter einem Baum verstreut wird, was er getan hat. Er musste ihren letzten Willen erfüllen.«
»Aha, und danach hat der Baum mit der Stimme der Schwester gesprochen.«
»Grob gesagt ist das so. Aber ich will Ihnen Einzelheiten erzählen, John, und ich denke nicht, dass man mich angelogen hat.«
Ich erfuhr, was in diesem Wald passiert war und dass es auch einen Zeugen gegeben hatte, einen Förster namens Peter Benson.
»Fassen wir zusammen, John. Die Asche wurde verstreut, aber sie blieb nicht auf dem Boden liegen, sondern sickerte in ihn hinein. Er hat sie sich praktisch geholt, und wenig später vernahm der Lord die Stimme seiner toten Schwester aus dem Baum. So gehe ich davon
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