Märchenwald Mörderwald
saß, immer das Gefühl haben, im Wald zu sein, oder wollte zumindest in ihn hineinschauen.
Es brannte keine Außenleuchte. Auch innen im Haus war es jetzt dunkel. Marisa schaute auf die Uhr.
Ja, das war eigentlich die Zeit. Etwa um Mitternacht herum schien im Wald ein Vorhang zur Seite zu gleiten, um der anderen Seite einen Blick in die reale Welt zu ermöglichen.
Marisa wurde seltsam ruhig. Sie holte sich einen kleinen Hocker und setzte sich vor die Scheibe. Ihre Beine waren vom langen Stehen schon müde geworden. Das Kinn stützte sie gegen ihre Handballen. Die Ellbogen hatte sie auf die Knie gestellt. Manchmal wurden ihr die Augenlider schwer, aber sie riss sich immer wieder zusammen.
Es musste einfach passieren. Sie kannte die Gesetze und Abläufe. Sie hatte sie genau studiert.
Der Wald bildete an seinem Rand so etwas wie eine undurchdringliche Wand. Vor allen Dingen in der Dunkelheit. Da war nicht eine Lücke zu sehen. Auch die Bank, die ihr Mann und sie aufgestellt hatten, war von der Dunkelheit verschluckt worden.
Marisa spürte ihre Nervosität. Sie nagte an der Unterlippe. Ihre innere Uhr machte ihr klar, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sich die andere Seite zeigte.
Und es passierte!
Die Frau stand auf, als sie die Bewegung am Waldrand sah. Ein Schauer jagte vom Nacken her über ihren Rücken hinab. Unwillkürlich ballte sie die Hände, und sie hatte den Eindruck, als wäre am Waldrand eine große Tür geöffnet worden.
Ihre Lippen zuckten. Heftig fuhr der Atem aus dem Spalt. Sie spürte das Pochen im Kopf, aber noch deckte die Dunkelheit alles zu. Sie schien zudem aus dem hinteren Teil des Waldes zu strömen, aber sie veränderte sich auch, denn es tauchte ein recht heller Schatten auf, der so groß war, dass er bis zu den Kronen der Bäume reichte.
Ja, sie hatte sich nicht geirrt. Jetzt war es wieder so weit. Der Wald hatte seine Tore geöffnet. Er wollte das Geheimnis nicht mehr für sich behalten.
Etwas bewegte sich durch den Wald. Es war nicht genau zu erkennen. Es war einfach nur groß und mächtig. Ein heller Schatten in der Dunkelheit, der auch als riesenhaftes Gespenst hätte bezeichnet werden können. Er durchstreifte die Natur, und er gab dabei keinen Laut von sich. Er blieb ein Teil der Stille.
Es gab keinen Platz im Wald, und trotzdem drang der Schatten weiter. Nichts störte ihn. Bleich wie der Mondschein sah er aus, und er verteilte seine Blässe auf die Bäume und das Buschwerk, das ihn umgab.
Marisa kam der Vergleich mit einem bleichen Gespenst in den Sinn. Wobei sie sich nicht die Frage stellte, woher es kam. Es war einfach da, und sie sah es nicht zum ersten Mal.
Es verließ den Wald.
Wenig später schwebte es bereits über die Wiese hinweg. Es befand sich auf dem Weg zum Haus, und jetzt, wo es nicht mehr durch Bäume gestört wurde, nahm es eine bestimmte Gestalt an. Dabei schien es noch mehr zu wachsen, sodass der Frau dafür nur ein Begriff einfiel. Für sie war das Wesen eine Riesin.
Eine mächtige Frau. Eine Waldfee, die groß wie ein Baum war. Die fahle Haare hatte, die ein starres, wie hölzern wirkendes Gesicht umrahmten. Es passte dazu, denn die Haut sah wirklich wie Holz aus, von dem die Rinde entfernt worden war.
Es war nicht zu erkennen, ob diese Gestalt Kleidung trug. Sie war auch nicht nackt, sie schien nur von innen her zu leuchten, ohne dass sie in der Dunkelheit strahlte. Diese Riesin war ein Phänomen, das von zwei menschlichen Augen beobachtet wurde.
Marisa Benson fragte sich, ob sie Angst verspürte.
Nein, seltsamerweise nicht. Keine Angst davor, dass sie ihr Leben verlieren könnte. Sie merkte nur, dass sich die Spannung in ihr verdichtete und sie wieder mal zugeben musste, dass sie sich nicht getäuscht hatte, auch wenn es keine normale Erklärung dafür gab.
Marisa kannte die Gestalt, auch wenn sie jetzt anders aussah als früher. Die Grundzüge waren gleich geblieben.
Das riesige Waldgespenst war niemand anderes als ihre Tochter Alina...
***
Die Erkenntnis war nicht neu, aber Marisa erlebte wieder diesen Schock, der bei ihr das Gefühl auslöste, in Eiswasser getaucht zu werden. Sie war kalt bis in die Zehenspitzen hinein, und wenn sie jetzt geweint hätte, wären sicherlich kleine Eisperlen aus ihren Augen gelaufen.
Unzählige Gedanken schossen durch ihren Kopf. Vorwürfe, Bitten um Verzeihung, das alles kam zusammen. Das schlechte Gewissen bohrte und drängte. Sie wusste, dass sie die Schuld trug und dass sie unter dieser Last
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