Märchenwald Mörderwald
Moment später schob sich die große Scheibe wie von Geisterhand bewegt nach links weg.
Benson lief ein paar Schritte ins Freie. Dann blieb er Stehen und pfiff. Es war das Signal, auf das Ricky reagierte. Nur in diesem Fall nicht. Der Mischling rannte weiter, gab ein scharfes Bellen ab und hatte den Waldrand erreicht.
Einen Moment später war er im dichten Unterholz verschwunden und tauchte auch nicht wieder auf. Selbst sein Bellen war nicht mehr zu hören.
Marisa war ihrem Mann gefolgt. »Oh Gott, jetzt hat der Wald unseren Ricky verschlungen!«
Peter widersprach ihr nicht. Was hätte er auch großartig sagen sollen? Er glaubte ebenfalls daran, und er merkte, dass sich sein Herzschlag beschleunigte.
Schweiß trat ihm aus den Poren und bedeckte seine Stirn. Er wusste nicht, was er unternehmen sollte. Er hatte das Gefühl, gelähmt zu sein, und wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme seiner Frau.
»Wir müssen ihn suchen!«
Dagegen hatte Peter nichts einzuwenden. Nur mussten sie in den Wald, und das passte ihm nicht. Zumindest wollte er nicht waffenlos gehen und sagte: »Ich hole mein Gewehr.«
»Gut.«
Marisa wartete darauf, dass ihr Mann zurückkehrte. Auch in ihr herrschte ein großes Durcheinander. Die Gegend, die ihr so vertraut gewesen war, kam ihr plötzlich so fremd vor. In der Dunkelheit schienen zahlreiche Feinde zu lauern.
Doch daran wollte sie nicht denken. Für sie war einzig und allein Alina wichtig. Es interessierte sie auch kein sprechender Baum oder Erde, die Totenasche aufsaugte, wichtig war nur die Tochter.
Peter kehrte zurück. Er atmete heftig, weil er sich beeilt hatte und schnell gelaufen war.
»Alles klar?«
»Es ist nichts geschehen, Peter.«
»Gut, dann werde ich mal...«
»Moment noch. Nicht nur du wirst in den Wald gehen. Ich werde dich begleiten.«
Um seine Lippen huschte ein Lächeln. »Ich weiß nicht, Marisa. Das kann sehr gefährlich werden und...«
»Es geht um unsere Tochter, Peter. Wir haben bisher alles gemeinsam durchgezogen und werden auch jetzt nicht davon abgehen. So sehe ich die Dinge. Wir gehören zusammen.«
»Gut, dann lass uns gehen.«
Es wurde für das Ehepaar ein schwerer Gang. Hinzu kam, dass sie aus dem Wald nichts hörten. Die nächtliche Stille hielt das Gebiet dort umklammert. Nichts drang nach draußen.
Von der Wiese her strömte ihnen der typische Sommergeruch entgegen. Das Gras gab einen Duft ab, der ihnen beiden gefiel. Hinzu kam das Aroma der Sommerblumen. Es war auch die Zeit, in der sich der erste Tau bildete. Nur das Rascheln des Grases war zu hören.
Die Bensons sprachen nicht miteinander. Sie wollten sich durch nichts ablenken lassen. Für sie war es wichtig, dass sie etwas erreichten, und sie waren bereits über ihren eigenen Schatten gesprungen.
In der Nähe des Waldes wurde der Boden feucht. Ein Rutengänger hatte herausgefunden, dass es an dieser Stelle eine unterirdische Wasserader gab, doch ein Bach selbst floss nicht durch den Wald. Den fand man weiter im Westen, nahe der kleinen Ortschaft Woodlawn, einige Meilen vom Haus des Försters entfernt.
Als sie trotz der Dunkelheit das erste Unterholz sahen, blieben sie stehen. Beide schauten nach vorn, aber beide zögerten auch, sich zu bewegen. Eine gewisse Furcht ließ sie vorsichtig werden, und so lauschten sie zunächst auf Geräusche. Doch die blieben leider aus, denn Ricky ließ nichts von sich hören.
»Jetzt kommt es darauf an!«, flüsterte Peter. »Gehen wir zu zweit in den Wald oder...«
»Moment noch. Lass uns bitte zuerst nach Ricky rufen. Ist das in deinem Sinne?«
»Ja, okay.«
Sie taten es. Sie wechselten sich ab, aber sie erhielten keine Antwort von ihrem Hund. Der Wald hatte ihn praktisch aufgesaugt.
Marisa ließ ihren Gedanken freien Lauf.
»Ob er noch lebt?«, hauchte sie.
»Ich weiß es nicht.«
»Und Alina?«
Marisa Benson hatte genau die richtige Frage gestellt. Es schien zudem so zu sein, als wäre ihre halblaute Stimme bis tief in den Wald eingedrungen, denn dort tat sich etwas.
Keiner von ihnen sprach, jeder schaute nach vorn, als sich zwischen den Bäumen ein gewaltiges Gespinst bildete. Es war zunächst eine unförmige Gestalt, blass und bleich, aber aus dieser Gestalt schälte sich die Projektion eines Menschen hervor.
Der Förster konnte nicht anders, er musste seine Gedanken in Worte fassen. »Das ist eine Riesin, verdammt! Das ist...«
»Alina!«
Marisa hatte die Antwort mit schriller Stimme gegeben. Sie fühlte sich jetzt ihrer Tochter
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