Märchenwald Mörderwald
wir sie haben suchen lassen. Aber da war nichts. Nicht mal der geringste Hinweis. Der Wald schweigt.«
Sir Henry nickte vor sich hin. »Das ist ein Hammer«, flüsterte er. »Dann haben wir es hier mit einem Gebiet zu tun, in dem nicht alles geheuer ist?«
»Ja, so sagen es die Menschen.«
»Ach? Die Menschen. Und was sagen Sie dazu, Mr. Benson?«
Der Förster stockte bei seiner Antwort. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«
Der Lord drehte sich um, damit er wieder den Baum anschauen konnte.
»Ihre Tochter ist spurlos verschwunden. Die Asche meiner toten Schwester wurde vom Erdboden verschluckt, und wenig später hat der Baum mit der Stimme meiner Schwester zu mir gesprochen. Ich denke, dass dies ein wenig zu viel des Guten gewesen ist.«
»Da stimme ich Ihnen zu.«
»Dann müssen wir etwas tun«, erklärte der Lord. »Das kann man doch nicht einfach so hinnehmen, verflucht noch mal!«
»Sie sagen es, Sir. Aber was? Ich habe Tage und Nächte in diesem Wald verbracht, aber es ist mir nicht gelungen, eine Spur meiner Tochter zu finden.«
»Glauben Sie denn daran, dass sie noch lebt?«
»Man soll die Hoffnung nie aufgeben.«
»Das stimmt. Sage ich auch immer.« Der Lord schaute sich den Baum noch mal an. »Aber man kann auch nicht alles hinnehmen, denke ich. Man muss etwas unternehmen.«
»Wissen Sie denn einen Rat, Sir?«
Der Adlige überlegte. »Wenn Sie mich direkt fragen, dann kann ich Ihnen keine klare Antwort geben. Aber ich werde mir etwas einfallen lassen. Darauf können Sie sich verlassen.« Er räusperte sich. »Und jetzt möchte ich verschwinden.«
Er deutete auf den Baum.
»Aber ich verspreche dir und auch Ihnen, Mr. Benson, dass ich zurückkehren werde.« Er packte die Urne wieder in den Rucksack. »Eigentlich habe ich nie an Geister geglaubt, aber das sehe ich jetzt anders. Es war die Stimme einer Toten, die mich aus dem Baum erreichte, und ich denke, dass man das aufklären muss.« Er lachte und streckte seinen rechten Daumen in die Höhe. »Sie werden es kaum glauben, Mr. Benson, aber ich denke bereits einen Schritt weiter. Und ich weiß auch, was ich zu tun habe.«
»Darf ich fragen, was es ist?«
»Nein, aber Sie werden von mir hören. Entweder direkt oder indirekt.« Er wies mit dem Zeigefinger auf seinen Begleiter. »Und gehört haben wir die Stimme beide – oder?«
»Das kann ich beschwören.«
»Dann bin ich zufrieden...«
***
Es war für Marisa Benson nicht leicht gewesen, im Haus zu bleiben und sich noch hinzulegen, denn das Erlebte arbeitete zu stark in ihr. Auf der anderen Seite hätte sie nicht gewusst, wohin sie hätte gehen sollen. So hatte sie sich im Wohnraum auf die Couch gelegt, und zwar so, dass sie das große Fenster im Blick behielt. Das Rollo hatte sie bewusst nicht heruntergezogen, denn sie wollte nach draußen in die Natur schauen, um jede Veränderung sofort zu bemerken.
Natürlich dachte sie an Alina. Oder besser an das Gespenst Alina. Als etwas anderes konnte sie ihre Tochter nicht ansehen. Ein riesiges, baumhohes Gespenst. Bleich wie der Tod und kalt wie das Licht eines Wintermondes. Das Bild wollte ihr nicht aus dem Kopf, und sie stellte sich auch die Frage, wie Alina zu einer derartigen Gestalt hatte werden können.
Eine Antwort darauf fand sie nicht. Aber die Menschen aus der Umgebung schienen Recht zu haben, wenn sie behaupteten, dass mit dem Wald etwas nicht stimmte und er bereits seit langen Zeiten eine unheimliche Gegend war, in der sich etwas verborgen hielt, was es normal nicht geben durfte.
Nein, das war kein Märchenwald, das war eher ein Mörderwald. Obwohl es auch böse Märchen gab, bei denen die Kinder Angst bekamen. Märchen und Grausamkeiten schlossen einander nicht aus.
Das Haus lag in einer ungewöhnlichen Stille. Niemand war da. Selbst der Hund nicht. Ihn hatte Peter mitgenommen, und Marisa wünschte sich wieder, dass ihr Mann bei ihr war.
Sie hatte einige Male daran gedacht, ihn anzurufen, denn zu seiner Ausrüstung gehörte ein Handy. Doch dann hatte sie davon Abstand genommen. Wenn sie Peter am Telefon erzählt hätte, was ihr widerfahren war, er hätte ihr bestimmt nicht geglaubt. Er war mit Lord Britton unterwegs, und mit ihm sollte man es sich nicht verscherzen. So jedenfalls sah sie die Dinge.
Die große Angst war nicht über sie gekommen. Eher eine gewisse Neugier auf die nahe Zukunft. Marisa ging davon aus, dass der Besuch ihrer gespenstischen Tochter nicht der letzte gewesen war. Sie konnte sich gut vorstellen,
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