Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
Zeitungskiosken und Nachtlokalen, in der Welt des Spektakels und der Politik bewegt. Rosa Alba und Paolo stehen sich sehr nahe, die räumliche Distanz hat daran nichts zu ändern vermocht. Vertrauen und gemeinsame Interessen sind die Basis ihrer Gespräche. Der Boss wendet sich an sie, um von ihren Kenntnissen zu profitieren, wenn es darum geht, Informationen über geplante Untersuchungen gegen ihn und seine Verbrecherbande einzuholen.
Die Prestigeposition der Schwester an der Verwaltungsspitze des traditionsreichen Krankenhauses, das nahe der päpstlichen Sommerresidenz im Südwesten Roms gelegen ist, gibt Paolo die Sicherheit, über eine wichtige, unmanipulierte Informationsquelle zu verfügen. Rosa Alba ist in der Lage, auch brisante Dinge in Erfahrung zu bringen, mittels einer dritten Person, einer Mitschwester, die – wie aus den Untersuchungsunterlagen hervorgeht – sehr hoch in der vatikanischen Hierarchie angesiedelt ist.
Als er seiner Schwester davon berichtet, dass angeblich gegen ihn etwas im Gange sei, verspricht ihm diese, sich umzuhören. Wenige Tage später meldet sie sich bei ihm und bestätigt seine Befürchtungen. Eine Freundin von ihr hat sie darüber informiert, dass es offenbar einen Verräter unter Paolos Leuten gibt, der heimlich mit den Justizbehörden zusammenarbeitet. Aus den Worten von Rosa Alba kann man die ganze Verachtung heraushören, die sie gegenüber jemandem empfindet, der mit der Justiz zusammenarbeitet und den Staatsanwälten Hinweise gibt, in welche Richtung sie ermitteln sollen. Sie benutzt das Wort »singen« statt »kollaborieren«.
Aber die Bereitschaft von Rosa Alba, ihrem Bruder, dem Mafioso zu helfen, geht noch deutlich weiter. Sie ist bereit, ihm die Betschwester vorzustellen, die ihr die Informationen über die in Gang befindlichen Ermittlungen vermittelt hat. Zudem sagt sie ihm, dass auch die Schwester seine Bekanntschaft machen möchte. Rosa Alba ist seit langem Hüterin unaussprechlicher Geheimnisse, die man nicht beichten kann. Geheimnisse in der Grauzone zwischen Religion und Verbrechen, Beispiele für die furchtbaren Bande, die Teile der Kirche mit der Mafia verbinden. Dies wurde auch wiederholt von Don Luigi Ciotti beklagt wurde, dem Gründer und Präsidenten der Vereinigung
Libera
. In seinen engagierten Reden erinnert er oft daran, dass man glaubwürdig sein muss, bevor man gläubig werden kann, und dass die Treue sich nicht darauf beschränken darf, Kruzifixe mit Küssen zu bedecken, sondern dass man der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen muss. Man muss sie praktizieren und sie verbreiten.
16.
LEA UND DENISE, ABTRÜNNIGE MAFIOSI-FRAUEN
Nicht alle Frauen akzeptieren das Gesetz der ’Ndrangheta, das Gesetz der Clans. Sie widersetzen sich. Sie begehren auf. Ihre Leidensgeschichten von Widerstand und Unterdrückung spielen sowohl im tiefen Süden Italiens als auch im Norden des Landes. Erlebnisse von Müttern, Ehefrauen, Töchtern, die gegen den Ehemann, den Sohn, den Bruder aufbegehrten, der zugleich der Boss eines Clans ist, und dafür mit ihrem Leben bezahlten.
Lea wollte nicht länger die Rolle der Mafia-Mutter spielen. Sie wollte nicht länger die Schwester der
Omertà
geben. Sie war die Schwester eines Paten aus Petilia Policastro (bei Crotone in Süditalien) und die Ehefrau eines Bosses der lombardischen ’Ndrangheta. Ihr Lebensweg war vorgezeichnet. Aber irgendwas sagte ihr, dass sich die Dinge auch ändern können. Die eisernen Regeln der ’Ndrangheta, die seit Jahrhunderten Männer, Frauen und Landschaften in Fesseln schlagen und sie gefangenhalten, können gebrochen werden. Und dass es schon ausreichen würde, zu wollen, sagte sie sich.
Dieser Gedanken kam ihr, als sie ihre Tochter betrachtete. Sie schaute ihr in die Augen und wusste, dass die Flucht aus diesem Tunnel der einzige Weg für einen Neuanfang war. Lea und Denise. Mutter und Tochter, geeint im Kampf um ein anderes Leben. Ein Leben, das sich von ihrem bisherigen unterscheiden sollte. Sie wollten nicht länger Geiseln der ’Ndrangheta sein. Sie wollten eine Zukunft. Sie wollten frei sein. 2002 entschloss sich Lea dazu, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Sie wollte jenes Leben hinter sich lassen, das mit ihrem Nachnamen verbunden war. Seit ihr Bruder es in die höheren Ränge der ’Ndrangheta geschafft hatte, erfreut sich dieser im Raum Policastro und in Mailand eines »guten« Klanges.
Floriano Garofalo ist der unbestrittene Herrscher des Ortsteils Pagliarelle in Petilia Policastro
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