Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
Sie und ihre Tochter müssten ihr Leben dann ein weiteres Mal ohne ihn zubringen. Was für ein Vater soll das sein, der so etwas macht?, fragt sich Lea. Die innere Zerrissenheit quält sie erneut. Nach einem Monat kommt es zu einem neuen Streit. Lea setzt Carlo und seine Verwandten vor die Tür. Die beiden rebellischen Frauen beschließen, allein zu leben. Mutter und Tochter beginnen noch einmal bei Null. Wieder auf der Suche nach Normalität. Doch für Carlo ist das Maß jetzt endgültig voll. Diese zweite Auflehnung ist für einen Mann von Ehre unverzeihbar. Er denkt über Rache nach und beginnt mit seinen Planungen.
Mai 2009. Die Frühjahrssonne im Molise wärmt Lea und Denise. Lea kennt die Gesetze und Reaktionsweisen der Mafiosi und rechnet fest mit irgendeiner Retourkutsche. Carlo wird ihr den Rauschmiss nie verzeihen. Jedes Mal, wenn es an der Wohnungstür klingelt, schreckt sie auf. Leise fächelt der Wind die Vorhänge an den Fenstern. Türen schlagen. Die Bodenbretter knarren. All das macht Lea nervös. »Mama, es klingelt an der Tür!«, ruft Denise. Lea fragt durch die Tür, wer da ist. Der Mann, der die Waschmaschine reparieren soll. Seltsam, denkt Lea, sie hat gar keinen Monteur bestellt. Aber die Waschmaschine ist tatsächlich kaputt, und Carlo hatte ihr kurz vor dem Rausschmiss noch gesagt, dass er einen Handwerker bestellt habe.
Lea lässt den Techniker herein. Als sie ihm einige Minuten bei der Arbeit zusieht, merkt sie, dass er ihr etwas vorspielt. Er kennt sich mit Waschmaschinen überhaupt nicht aus. Der »Handwerker« bemerkt ihr Misstrauen und läuft in die Küche. Er schnappt sich ein Messer und greift Lea an, versucht, sie zu würgen. Aber Lea tritt ihn in den Unterleib, wehrt sich mit aller Kraft. Sie setzt ein, was sie an Kampfsportgriffen kennt. Sie kämpft verzweifelt für ihre Freiheit und für ihre Tochter. »Komische Geräusche haben mich aufgeweckt«, erzählt mir Denise. »Als ich aus meinem Zimmer kam, habe ich gesehen, wie meine Mutter mit einem Mann kämpfte. Ich hab meiner Mutter geholfen, so gut ich konnte, und hab mit voller Kraft auf den Mann eingeschlagen, bis dieser von meiner Mutter abgelassen hat und floh. Er ließ jedoch seinen Werkzeugkasten zurück, in dem die Carabinieri einen Gummiball fanden, ein Seil, Klebeband, eine Schere, einen Elektroschocker und einen Schraubenzieher.«
Das Material im Werkzeugkasten des angeblichen Monteurs hätte dazu dienen sollen, Lea zu foltern und aus ihr herauszupressen, was sie vor Gericht ausgesagt hatte. Geständnisse, die ihren Mann beunruhigen. Aussagen, die den Ermittlern dabei helfen könnten, eine neue Ermittlung zu einem ganzen Bündel von Verbrechen zu beginnen. Lea umzubringen, ist nur das sekundäre Motiv für Carlo Cosco und seine Brüder. Vor ihrer Ermordung wollen sie noch wissen, was sie den Ermittlern verraten hat.
Seit jenem Mai 2009 wird auf Lea Jagd gemacht. Denise ist der Ehrenpokal, den es zu erringen gilt. Der Männlichkeitswahn von Carlo Cosco zeigt sich in seiner ganzen mafiösen Abartigkeit. Es kommt der 25. November 2009. Lea ist verschwunden. Keine Spur von ihr in Mailand. Die letzten, die sie gesehen haben, sind Denise und Carlo Cosco. »Verdammtes Mailand«, denkt Denise. Sie hätten nicht hierher zurückkommen dürfen. Ihre Mutter und sie waren für ein paar Tage in Florenz. Dann hatte Denise einen Anruf von ihrem Vater erhalten, der sie nach Mailand einlud. Da Lea sie nicht allein fahren lassen wollte, entschloss sie sich, ihre Tochter zu begleiten. Zu einem festlichen Abendessen mit Carlos Familie wollte sie aber nicht mitkommen. Deshalb ließ sich Lea am Arco della Pace absetzen. Sie wollte nicht, dass die Brüder ihres Mannes von ihrer Anwesenheit in Mailand erfuhren, weil sie erneute Attacken fürchtete. Sie entschloss sich, in einem Hotel zu übernachten. Zwei Tage vergehen schnell, dachte sie. Sie wollten sich am Abend des 24. Novembers wiedertreffen, um gemeinsam mit dem Zug zurück nach Kalabrien zu fahren. »Tschüss Mama, bis übermorgen«, das sind die letzten Worte, die Lea von ihrer Tochter Denise hört. Sie wird sie nie wiedersehen. Sie verschwindet spurlos. Sie verschwindet in den nebelverhangenen Landschaften der Brianza. Ein Sprung ins Leere. Ein Leben, ausgelöscht von der Rache der ’Ndrangheta.
»Das, was sich in Mailand abspielte, in einem zentralen und belebten Stadtbezirk, ist ein Fall der
Lupara bianca
. Ein unblutiger Mafia-Mord, der deutlich weniger öffentliche
Weitere Kostenlose Bücher