Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
bei Crotone. Ein Boss, dem zahlreiche junge Anbeter folgen. Nachwuchsverbrecher, die davon träumen, es ebenfalls bis ganz nach oben in der kriminellen Hierarchie zu schaffen, bis ins Gremium des
Crimine
. Unter den Fußsoldaten des Paten war der entschlossenste ein Mann namens Carlo Cosco. Ein Niemand für die Bosse der ’Ndrangheta in Kalabrien und in der Lombardei. Schlachtfleisch, wie all die anderen Jungen. Aber Cosco hatte einen Plan. Seit einiger Zeit trieb ihn der Traum vom Aufstieg um. Am schnellsten ist das traditionsgemäß zu bewerkstelligen, indem man in die führende Familie einheiratet. Dafür bot sich Lea an, die bis dahin ledige Schwester von Floriano. Damit wäre eine Führungsposition in der Mafia-Hierarchie quasi garantiert. Lea wurde eine leichte Beute, für ihn die Eintrittskarte in den Zirkel der respektierten Mafia-Anführer.
Lea kennt das Übel, das sie umgibt, nur zu gut. Sie nimmt es hin, unterwirft sich und wird ein Teil von ihm. Sie ist eine vorbildliche »Schwester des Schweigens«. Stillschweigen ist das oberste Gebot. Ohne Murren hatte Lea die Grundregel der ’Ndrangheta akzeptiert. Ihr konnten die Bosse blind vertrauen.
Zu Beginn der neunziger Jahre ändert sich Leas Einstellung. Nach unzähligen Razzien und ebenso vielen Verhaftungen ihres Mannes hat sie das Gefühl, etwas ändern zu müssen. Dieses unsichere Leben zwischen Rechtsanwalt und Knast macht sie fertig. Dann wird Denise geboren, die sie über alles liebt und die sie vor den Fallstricken der Mafia bewahren möchte. Der Mutterinstinkt bringt sie dazu, Carlo Cosco zu verlassen. Sie überlässt ihn seinem Schicksal, um Denise eine normale, ruhige Zukunft bieten zu können.
Natürlich hat sie versucht, Carlo das Versprechen abzuringen, sein Leben zu ändern, aber sie weiß nur zu gut, dass man sein Todesurteil unterschreibt, wenn man der ’Ndrangheta den Rücken zudreht. Sie weiß, dass ihr Mann nach wie vor in Treue fest zum Clan steht, koste es, was es wolle. Lea entscheidet sich allein, für ihre Tochter Denise. Sie zieht einen Strich unter dieses Leben, das sie als erdrückend empfindet und von dem sie sich losreißen möchte.
Immer wieder hatte sie versucht, mit Carlo darüber zu reden. Als er wieder einmal im Gefängnis saß, sagte sie ihm, dass sie ihn verlassen und Denise mitnehmen werde, wenn er nicht aussteigen würde. Worte, die Carlo in rasende Wut versetzten und dazu führten, dass er ausrastete und sie zu Boden schlug. Das, was Lea ihm mitgeteilt hatte, stellte eine ungeheure Beleidigung für einen »Ehrenmann« wie ihn dar. Er fürchtete, dass die Neuigkeit im Knast die Runde machen und er zum Gespött seiner Mithäftlinge werden würde. Die Schande war so groß, dass Carlo sogar darum bat, in eine andere Anstalt verlegt zu werden. Er wollte nicht länger dem Spott seiner bisherigen Kameraden ausgesetzt sein.
Lea bleibt keine andere Wahl. Sie muss weggehen, ohne vorher ein Wort zu sagen. So wie sie lange Jahre die Regel des Schweigegebots akzeptiert hatte, so entscheidet sie sich jetzt in aller Heimlichkeit dafür, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Sie sagt aus, und berichtet den Staatsanwaltschaften von Catanzaro und Mailand von Verbrechen, Morden, Drogenhandel. Lea und Denise werden 2002 in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Sie erhalten eine neue Identität. Sie beginnen ein neues Leben, ständig an neuen Orten, die von Fall zu Fall für sie ausgesucht werden. Eine bittere Situation für Lea, die ein normales Leben für Denise wollte.
Einsamkeit und Angst bestimmen von nun an ihr Leben. Schnell wird sie des Lebens als Kollaborateurin überdrüssig. Sie war davon ausgegangen, dass der Staat ihr ein besseres Leben ermöglichen könne. Sie hatte gehofft, als Kronzeuge eingestuft zu werden. Weil sie über den inneren Zirkel aussagte und selbst keine Verbrechen begangen hatte. Stattdessen erhält sie nur den niedrigeren Status als normale Zeugin im Schutzprogramm, das mit deutlich weniger Privilegien und Schutzmaßnahmen verbunden ist. Der ständige Stress deprimiert Lea. Sie denkt darüber nach, was für einen Sinn ihr Schritt letztlich gemacht hat. Es quält sie. Sie fühlt sich schuldig, hat Angst, leidet unter dem Verlust der alten Heimat. Sie kann nicht mehr schlafen. Das alles nimmt ihr die Freude an dem neu gewonnenen Leben.
Denise wächst heran. Schule, Freunde, Jugend, erste Liebe. Wie soll sie ihr auch nur ein Mindestmaß an Normalität garantieren, in diesem Leben als Gefangene, Isolierte,
Weitere Kostenlose Bücher