Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
vernichten gilt, oder mächtige Gegner, denen man aus dem Weg gehen muss. Je nach dem Grad der Militarisierung einer bestimmten Region.
Mit dieser Herangehensweise, frei von jeglichen ideologischen Dogmen, hat es die ’Ndrangheta geschafft, tief in die Gesellschaft des Piemont einzudringen. Auch in der regionalen Hauptstadt Turin ist es ihr das geglückt. Vor Ort tönt man: »Turin gehört uns!«, »Turin ist fest in unserer Hand!« oder »Der Chef von Turin ist mein Jahrgang, mein Kumpel. Der hat Turin komplett im Griff.« Im Schatten der
Mole Antonelliana
, des großen Museumsgebäudes im Zentrum Turins, kommandiert die ’Ndrangheta – wenn man den Worten von Giacomo Lo Surdo Glauben schenkt, einem Angehörigen der ’Ndrangheta-Filiale Piemont. Er gehört zur obersten Koordinierungsebene vor Ort. Diese wird streng abgeschieden von den übrigen Zellen, die von rangniedrigeren ’Ndrangheta-Mitgliedern geleitet werden und denen die Ausführung gewalttätiger Aktionen obliegt. So definieren es jedenfalls die Ermittler, die die Operation »Minotauro« durchführten. Ihnen zufolge sind in der Provinz Turin insgesamt neun Mafia-Zellen mit über vierhundert Mitgliedern präsent.
Wo die ’Ndrangheta-Clans in Piemont nicht selbst unternehmerisch tätig sind, saugen sie den übrigen Unternehmern das Blut aus. Hundert Euro im Monat. Das ist die Summe, die einige Gewerbetreibende der Region Turin an die Clans abführen müssen, damit sie ruhig schlafen können. Die Methode trägt die Signatur von Vincenzo Argirò vom
Crimine
in Turin und von Antonino Occhiuto, einem der Anführer der abtrünnigen ’Ndranghetisten von der
Bastarda
. Jeder treibt Schutzgeld für seinen Herrschaftsbereich ein. Eine Methode, die den Clan-Chefs von Turin aber nicht mehr in den Kram passt. »Ich werde ihn in Rivarolo abpassen, den Arsch, das gibt Krieg, ich schwör’s euch.« Bruno Iaria gibt sich zum Äußersten entschlossen. Wenn Occhiuto es wagen sollte, den Fuß auf eine »seiner« Baustellen zu setzen, werden die Waffen sprechen.
Die Bosse aus dem kalabrischen Careri (bei Reggio di Calabria), die Turin zu ihrer Wirkungsstätte erkoren haben, halten Schutzgeld für ein überholtes Erbe der Vergangenheit. Die Zukunft sieht anders und weitaus lukrativer aus: Materiallieferung, Dienstleistungen, Subaufträge. Und das alles völlig legal. Zumindest nach außen. Die von ihrem Gönner, dem Unternehmer Nevio Coral, eingeheimsten Gefälligkeiten summieren sich zu enormen Beträgen. Der »Bitte« der Clan-Chefs folgend bezahlt der Unternehmer sogar Geld für den Unterhalt von Angehörigen inhaftierter Mafiosi.
Die ’Ndrangheta ist ein Minotaurus, der seine Drogenmillionen im Wasser des Po wäscht. Sie setzt sich aus unverdächtigen Honoratioren der Gesellschaft zusammen, aus externen Unterstützern, die über jeden Zweifel erhaben sind, aber auch aus »Soldaten«, die jederzeit in der Lage sind, sich wie furchtbare, ausgehungerte Ungeheuer auf die Feinde der Mafien zu stürzen. Monster, die mit profitablen Geschäften ihren Schnitt machen: Materialzulieferung für die Bauwirtschaft (Autotransporte eingeschlossen) und Nachtclubs gehören zu den legalen, Drogenhandel, Erpressung, Wettbetrug zu den illegalen Aktivitäten der ’Ndrangheta.
»Ich glaube, dass wir letztlich alle Unternehmer sind, jeder auf seine Art. Es stimmt nicht, dass wir Betrüger sind. Wir müssen uns eben auch von irgendwas ernähren«, sagt Nevio Coral, der mit der ’Ndrangheta bei der Vergabe von Subaufträgen zusammenarbeitet. »Wir haben mit dem Bürgermeister einen vielversprechenden Ansprechpartner. Er hat mich heute morgen darum gebeten, die Geschäftsführung der Gesellschaft, über die er uns Aufträge im Wert von 2,5 Millionen Euro verschaffen will, einem seiner Vertrauten zu übertragen.« Aus einem per Wahl errungenen Posten können gewinnbringende Aufträge resultieren, darüber ist sich Vincenzo Todarello, der zu den Verdächtigten der Untersuchung in Turin gehört, im Klaren. Aber er ist nicht gewillt, wie er Francesca Argirò verrät, das Angebot, das er von Nevio Coral erhalten hat, mit den vorgesehenen Personen zu teilen.
Turin ist eine geheimnisvolle Stadt, eine europäische Kapitale und vielleicht die einzige Stadt Italiens mit wirklich europäischem Geist. An Arbeit mangelt es hier wahrlich nicht. Im Schatten der Stadtmauer von Turin reiht sich Baustelle an Baustelle. Neue Gebäude werden errichtet, viele davon von ehrlichen Firmen, die sich im
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