Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
dass der vorgeschriebene Konsens aus dem Blick gerät.
Ein prototypischer Fall hierfür ereignete sich 2009. Nach dem Abschluss der Kandidatenvorsprache in seiner Villa empfiehlt Clan-Chef Pelle aus San Luca seinem engsten Mitarbeiter, sofort die politische Überprüfung der verschiedenen Kandidaten einzuleiten, die von ihm Wahlkampfunterstützung erbeten und Gefälligkeiten im Tausch versprochen hatten. Ähnlich hält es der Oberboss von Siderno, Francesco Comisso, der sich davon überzeugt zeigt, dass man die verschiedenen angebotenen Gefälligkeiten genau abwägen müsse. Daher werden die entsprechenden Kandidaten auch hier einer Überprüfung unterzogen. An Kandidaten, die der Mafia ihre eigene Zukunft im Tausch gegen Wählerstimmen anbieten, herrscht kein Mangel. Daher ist es für die lokalen Zellenchefs von entscheidender Bedeutung, wer von den Kandidaten wirklich vertrauenswürdig ist, von wem am wenigsten Schwierigkeiten und am meisten Vorteile zu erwarten sind. Mit zunehmender Zahl an kooperationswilligen Kandidaten wird es jedoch immer schwieriger, die Stimmen der einzelnen Clans auf einen einzigen Kandidaten zu vereinen. Aber nur das garantiert, den Wahlausgang signifikant zu beeinflussen. Es kann also trotz allem passieren, dass bei den Wahlen das von einer Clan-Führung ausgewählte »Pferd« verliert. Es siegt immer nur der, der die Stimmen einer Vielzahl von Clans auf sich vereinen kann. Patronagewirtschaft, Korruption und Mafia-Macht gehen Hand in Hand. Die Mafiaisierung Italiens befindet sich bereits in einem fortgeschrittenen Zustand. Ihre Stärke bezieht sie aus der Allianz, aus der vereinigten Potenz von Unterwelt und Misswirtschaft.
20.
»TURIN GEHÖRT UNS«
Vor der großen Hofgesellschaft hält man still
Wenige Worte und die Augen zu Boden
Der der spricht ist der der befiehlt
Mit seiner Stimme unterwirft er uns
Traditionelles Sprichwort der ’Ndrangheta
»Lasst uns einen Kreis bilden«, sagt Don Rocco, der Unternehmer-Mafia-Boss der ’Ndrangheta in Turin, und fügt hinzu: »Vom jüngsten bis zum ältesten.« Mit dem Blick sucht der Pate den Täufling. Dieser soll sich heute dem »Schwanzschnitt« oder der »Kupierung« unterziehen, um als unterster Dienstgrad in die ’Ndrangheta aufgenommen zu werden.
»Wo ist der Lehrling?«
Die Mitglieder zeigen auf ihn. Der junge Mann macht einige Schritte nach vorn, flankiert von zwei Respektspersonen, den Paten Don Totò und Don Micu. Sie sind seine Wächter. Sie stellen das »Paar« dar, also die Garanten für die künftige Treue des Neophyten zur Mafia.
»Junger Mann, was führt Sie her?«
Dieser Satz wird von Don Rocco ausgesprochen. Damit beginnt die Initiationszeremonie.
»Blut und Ehre«, antwortet Manuele sichtlich bewegt.
Ab diesem Moment gibt es kein Zurück mehr. Jetzt kann man nur noch als Toter die »ehrenwerte Gesellschaft« verlassen.
»Wie muss das Betragen sein und was sind die Pflichten des Lehrlings gegenüber den weisen Meistern?«
»Der Lehrling ist der demütige Diener, die Pflicht ruft ihn. Er muss bereit sein, jedem Befehl zu folgen, und muss demütig und weise in allen seinen Verhaltensweisen sein«, lautet die entschiedene Antwort desjenigen, der sich intensiv vorbereitet hat. Vielleicht weil er sich dazu verpflichtet fühlt, vielleicht auch, weil er an das System Mafia glaubt. Und er hat schon lange auf die entscheidende Antwort gewartet.
»Über wie viele Straßen verfügt die Gesellschaft?«
»In der Gesellschaft gibt es drei Straßen.«
»Womit wurden sie gebaut?«
»Mit Hühnerbeinen.«
»Und welche Straße haben Sie genommen, um ein Lehrling zu werden?«
Der Mafia-Aspirant kennt die festgelegte Antwort: »Die rechte, weil ich meine weisen Meister dort gehen sah.«
»Gut gemacht,
Picciotto
.«
»Auf der linken Straße gehen nur Bullen, Verräter und Schwätzer.«
An diesem Punkt wird ein Heiligenbild des Erzengels Michael gereicht, das angezündet wird und das völlig verbrennen muss. Dann greift der Pate nach dem Handgelenk des Aufzunehmenden und macht einen kleinen Schnitt, so dass einige Blutstropfen hervortreten, die auf das brennende Heiligenbild fallen.
»Wenn ich dich bis jetzt als ehrenwerter Unterstützer kannte, so kenne ich dich ab jetzt als ehrenwerten Lehrling. Ab jetzt bist du Teil dieser Familie und der ehrenwerten Gesellschaft.«
Es ist eine Lektion des mafiösen Ehrenkodexes, was der Pate hier mit dem Neuling veranstaltet. Es geht weiter mit der Erläuterung einiger grundlegender
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