Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
Regeln für den Neugetauften.
»Die Gesellschaft ist eine Familie, und daher sind alle Mitglieder Brüder und müssen sich als solche respektieren. Es gilt das Prinzip ›Einer für alle, alle für einen‹. Wenn einer von der Familie oder einer der Freunde stirbt, muss man zu seinem Begräbnis gehen, und man darf sich nicht schämen, den Kranz oder Blumen zu bringen, da man damit Respekt bezeugt. Und bevor man ans Grab tritt, muss man sich der betroffenen Familie vorstellen und ihr seine Hilfe anbieten. Man darf keine Angst haben vor denen, die einen schief anschauen, sondern vor denen, die einem zulächeln.«
Manuele ist jetzt Lehrling, nach den Fachausdrücken der ’Ndrangheta ein
Picciotto d’Onore
. Mit 17 Jahren ist er jetzt ein Mann, und »ein guter Christ«. Der Ehrenkodex der ’Ndrangheta sieht eigentlich eine Aufnahme erst mit 18 Jahren vor, aber für ihn hat der Oberboss einer Ausnahme zugestimmt. Manueles Vater ist ein Clan-Angehöriger im Range eines
Quartino
. Das ist einer der höchsten Grade dieser Mafia. Er leitet die Mafia-Zelle von Turin.
Die Geschichte von Manuele verbindet sich mit jener eines anderen jungen Mafia-Angehörigen. Arcangelo Gioffrè war ebenfalls mit 17 zum »Mann« geworden. Auch für Arcangelo wurden die Riten gelesen. Er ist der Sohn von Peppe Gioffrè, Chef einer anderen Mafia-Zelle in Turin. Bessere Referenzen gibt es kaum innerhalb der Mafia. Ihr anzugehören, davon hat Arcangelo immer geträumt. Er ist mit der Mafia aufgewachsen, hat sie sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen.
Er erinnert sich an die Geschichten, die sein Vater zu Hause erzählte. Eine kommt ihm an diesem Abend in den Sinn, nachdem er die Zeremonie überstanden hat. »Du musst Angelo Gioffrè sein, und nicht der Sohn von Peppe Gioffrè. Wenn es nötig ist, bist du mein Sohn. Aber du musst dir deine eigene Machtposition erkämpfen, unabhängig von mir. Mir würde es gefallen, wenn dich die Leute fürchten und respektieren. ›Wahnsinn, der Sohn von Peppe Gioffrè‹, sollen sie sagen. Du sollst dein Leben genießen, ausgehen und nicht immer unter deinesgleichen bleiben. Der innere Zirkel besteht nur aus vier oder fünf Leuten, das ist auf Dauer Inzucht.«
Für den jungen Arcangelo ist das eine Lektion fürs Leben. »Bleib nicht immer im inneren Zirkel der Kalabresen. Das hat mir mein Vater vorgegeben«, erinnert sich der Sprössling. Seine Zukunft ist vorgezeichnet, zurück kann er nicht mehr. Die Zukunft wird aus unaussprechlichen Geheimnissen bestehen, geheimen Versammlungen, Gewalt, Befehlen.
Die ’Ndrangheta als Karriereinstrument und als Mittel, gesellschaftliche Anerkennung zu gewinnen. Das ist die große Illusion, die viele junge Leute und Unternehmer in die Arme der »Krake« treibt. Sie entscheiden sich, auf den Karren aufzuspringen, der von den Bossen gesteuert wird. Als ob es eine Rolltreppe wäre, die einen automatisch in höhere Gesellschaftsschichten bringt. Aber die Mechanismen, auf denen die Übertragung von der Macht der ’Ndrangheta beruht – gerade im Hinblick auf die Gesellschaft Italiens –, sind nicht auf Verdienste gegründet. Die Führung der Mafia ist nur direkten Verwandten der mächtigsten Bosse zugänglich. Ein einfacher äußerer Zuträger wird bis zum jüngsten Tag der Sklave seines Paten sein. Sein Schicksal lautet Knast, den man für den Boss abreißt. Sein Schicksal lautet Tod, erlitten anstelle wichtigerer Mafia-Mitglieder. Oder aus Gründen der »Schändlichkeit«. Schändlich ist jeder, der das System, dessen Opfer er ist, bei der Polizei verpfeift. Die Kronzeugen sind besonders »schändlich« in den Augen der ’Ndrangheta. Sie stehen auf derselben Stufe wie »Bullen«. Ein Schimpfwort, das auch für Kaufleute und Unternehmer gebraucht wird, die die Mafia anzeigen.
»Freunde« sind für die Mafia diejenigen, die das Schweigegebot bis ins Grab respektieren, egal ob sie aus der Politik oder der Wirtschaft stammen. »Freunde« sind auch diejenigen, die die Ideale des Rechtsstaates verraten, Staatsanwälte, Politiker, Ermittler, die sich dem Mafia-Klüngel anschließen. Für die Mafiosi teilt sich die italienische Gesellschaft in zwei Gruppen auf: »Schändliche« und »Freunde«. Alle anderen sind bedeutungslos. Die ’Ndrangheta bewegt sich jenseits der Ideologien. Wer auch immer ihr Vorteile garantiert, wird freundlich aufgenommen in die Gemeinschaft all derer, die die Mafia im Bereich der Legalität unterstützen. Alle anderen sind Feinde, die es zu
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