Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
Schlachten, in denen es um Gerechtigkeit ging.
Der mit einem zarten Rosa überzogene blaue Morgenhimmel wölbt sich über uns, als Peppe in Tränen ausbricht. Er fühlt sich als Feigling. Erzählt von seinem querschnittsgelähmten Patienten. Sein Unbehagen, seine Zweifel, seine Ängste kann ich nur zu gut verstehen.
Schließlich kamen zwei Ärzte in die Klinik, die niemand jemals zuvor gesehen hatte. Sie nahmen ihn beiseite und klärten ihn auf, dass sie als Ärzte verkleidet seien und jetzt die Klinik durchsuchen würden. Ihr Ziel sei »Ciccio Pakistan«. Die letzten Minuten des flüchtigen Schwerverbrechers in Freiheit begannen. Als die verkleideten Ärzte sein Krankenzimmer betraten, reagierten die geschärften Sinne des geübten Kriegers, er merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Mafioso geriet in Panik. Er fürchtete um sein Leben. Vor den feindlichen Clans hatte er mehr Angst als vor dem Gefängnis. Peppe beobachtete das Ganze. Der Knabe im Rollstuhl machte ihn wütend. Er hatte ganze Familien zerstört. Aber Peppe hatte auch Mitleid mit ihm. Pelle hatte seine Existenz geopfert, das einzige Leben, das er hatte, um der Chimäre der Macht zu folgen, der absoluten Herrschaft. Besoffen vom Ehrenkodex der ’Ndrangheta hatte er sich in die Vorstellung verrannt, dass sich Verbrechen doch auszahlt. Den Preis dafür hat er bereits bezahlt. Er wird für immer querschnittsgelähmt bleiben.
Vor den Polizisten des Sondereinsatzkommandos stritt der Mafioso zunächst ab, Francesco Pelle zu sein. Doch das half ihm nichts, die Carabinieri nahmen ihn fest. Statt fernzusehen, war »Ciccio Pakistan« mit seinem Laptop im Internet auf Seiten von Spezialversendern unterwegs gewesen. Abhörwanzen und andere Technologien im Dienste der Sicherheit. Und er hatte Skype genutzt, das abhörsichere Kommunikationsmedium. Das er während seiner Bettlägerigkeit nutzte, um mit Freunden und Verwandten zu reden. Neben den kleinen Nachrichten in Zettelform, einem archaischen Mittel, um im Zeitalter umfassender staatlicher Überwachungsmöglichkeiten sichere Botschaften zu versenden, wird nun zunehmend eine neue Dialogform genutzt, ohne die alte völlig zu ersetzen: die über Chat ausgetauschten Botschaften.
Peppe sah dem Auto der Carabinieri hinterher, das den gelähmten Schwerverbrecher zum Gefängnis fuhr. Jetzt konnte er endlich wieder frei aufatmen. Die Anwesenheit des Clan-Mitglieds hatte ihm vor Augen geführt, wie sehr die ’Ndrangheta bereits in Norditalien Fuß gefasst hatte. Dass es sich nicht um separate Unterwanderungsversuche einzelner kalabrischer Clans handelte, sondern um einen Generalangriff, der von der Unterstützung durch Politik, Wirtschaft und Selbständige profitierte. Peppe wurde immer klarer, dass es die ’Ndrangheta in der Lombardei geschafft hatte, sich einen artgerechten Biotop zu schaffen, indem sie in Dialog mit der Grauzone trat. Sprich mit der korrupten Bourgeoisie, die seit 150 Jahren ’Ndrangheta, Camorra und Cosa Nostra am Leben erhält. Die Anwesenheit von »Ciccio Pakistan« in der Klinik von Pavia war dafür ein klarer Beleg. »Beunruhigend sind die Beziehungen der ›ehrenwerten Gesellschaft‹ mit Exponenten der öffentlichen Institutionen: mit Ordnungshütern, Wahlkandidaten, Vertretern der Verwaltung. Die ’Ndrangheta ist nicht einfach eine kriminelle Vereinigung, sondern ein eigenes Machtsystem, das zu anderen Mächten Beziehungen knüpft. Sie setzt dabei auf stabile Verbindungen nicht nur korrumpierenden Charakters, sondern auch solchen der Nähe und der Nachbarschaft.« So die Einschätzung des Untersuchungsrichters, der für die Operation »Infinito« zuständig war, einem Teil der umfassenderen Operation »Crimine«, die von den Anti-Mafia-Direktionen Mailand und Reggio di Calabria koordiniert wurde. »Crimine« endete mit 304 Verurteilungen zu Sicherungshaft. Es war eine historische Operation, die die neue, im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts entwickelte Führungsstruktur der ’Ndrangheta eindringlich beleuchtete, die zuvor schon Kronzeugen wie Scriva am Ende der achtziger Jahre beschrieben hatten und die viel zu lange unterschätzt worden war.
Seit den siebziger Jahren hatte die horizontale Struktur dieser Mafia eine immer stärkere vertikale Ausrichtung erfahren. Dies geschah, um die großen Geschäfte besser unter sich aufteilen und künftige Aktionen, die nächsten Mordanschläge, besser vorbereiten zu können. Oder auch, um aussichtslose oder kontraproduktive Anschläge zu
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