Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
überraschende Wende: Er ergatterte eine Festanstellung. In einer noblen Privatklinik. »Besser als nichts«, wie er mit bitterer Zufriedenheit sagt. Ein sicherer Arbeitsplatz, der Mama und Papa stolz macht. Eine Anstellung, die es ihm endlich erlaubt, Pläne zu schmieden und zu verwirklichen. Er schätzt sich glücklich, denn viele seiner Kommilitonen rackern sich verzweifelt ab, ohne auch nur den Monatsunterhalt erwirtschaften zu können. Arbeitslose Promovierte, ausgebeutete Doktoren, allesamt unterbezahlt. Als wir uns treffen, neckt er mich mit den Worten: »Journalist? Wäre es nicht besser, als Akkordarbeiter auf den Feldern um Rosarno zu schuften? Da bekommst du wenigstens 25 Euro am Tag. Das ist doch besser als die lausigen vier Euro pro Artikel. Das ist doch der neue Tarifsatz, den die Zeitungen zahlen, oder?«
Peppe ist eine bekannte Persönlichkeit in Pavia. Alle kennen ihn. Und im Dunstkreis der Emigranten aus Kalabrien hat er sich Anerkennung verschafft. Er hat eine Position. Er gilt als Spitzenmediziner in der Abteilung für Rehabilitationsmedizin, festangestellt in der Privatklinik der Stiftung
Maugeri
vor den Toren Pavias. Das ist schon eine bemerkenswerte Leistung für einen jungen Mann von knapp dreißig Jahren, vor allem wenn man bedenkt, dass er dies ganz allein erreicht hat, ohne sich vor jemandem – weder vor einem Politiker noch vor einem Paten – zum Affen zu machen. Für einen wie ihn lebt es sich gut in Pavia. Er hat sein Haus, sein Welt, seine Freunde, Emigranten aus Kalabrien ebenso wie Einheimische. Die Jahre in Kalabrien, die geprägt waren von Unterdrückung und dem Pesthauch des Todes, der eine ganze Region überzieht, scheinen unendlich fern. Fort ist die Angst, dass man den nächsten Morgen nicht erlebt, weil man für irgendeine Hirnrissigkeit des amtierenden Paten bezahlen muss.
Aber die Vergangenheit kommt zurück. Dreist klopft sie an die Pforten der Gegenwart. Kaum hat man den charakteristischen Gestank, das Gejaule der hungrigen Bestie registriert, ist es auch schon zu spät. Und Peppe bekommt die Rückkehr der Vergangenheit schockartig vor Augen geführt, oder vielmehr in seine mit Gummihandschuhen für die Visite versehenen Hände gelegt.
Er stand direkt vor ihm. Erst wollte es Peppe nicht glauben, aber dann hat er ihn wiedererkannt. Denn der Mediziner aus Bovalino verfolgt natürlich auch in seiner neuen Heimat das Geschehen in seiner Geburtsstadt. Er kennt die Gesichter der Plünderer, die ihm seine Träume und seine Zukunft raubten. Er kennt die Schlächter seiner Hoffnungen und Aussichten, weiß um ihre chamäleonartige Verwandlungsfähigkeit. Er bemüht sich, gelassen zu bleiben und sich nicht als Landsmann zu erkennen zu geben. Aber sein Akzent verrät ihn. Dass er aus der Gegend um Locri stammt, entgeht seinem Gegenüber nicht. Peppe war bis dahin noch nie einem flüchtigen Mafia-Boss begegnet. Es war das erste Mal. Und nie hätte er im Traum daran gedacht, einmal direkt vor Francesco »Ciccio Pakistan« Pelle zu stehen. Vor allem nicht hier, in dieser Klinik, dem Ort der Heilkunst, wo man sich um Linderung der Schmerzen und Überwindung von Krankheiten kümmert, und nicht um Morde und Profite.
Francesco Pelle gilt als zentrale Führungsfigur im Clan der Pelle-Vottari aus der Mafia-Hochburg San Luca in Kalabrien. Seit 1991 liegt dieser Clan in einem erbitterten Kampf mit einem anderen örtlichen Clan, jenem der Familien Nirta-Strangio. Diese blutigen Auseinandersetzungen kulminierten in dem bekannten Mordanschlag vom 15. August 2007 in Duisburg, den ich bereits im Vorwort beschrieben habe. Hintergrund war eines jener Aufnahmerituale für neue Mitglieder, bei denen jedes Mal der archaische Grundzug der ’Ndrangheta mit Hingabe erneuert wird. Aus dieser Mischung von Archaik und Modernität bezieht die ’Ndrangheta ihre Energie. Das hat sie zur mächtigsten und geheimnisvollsten Mafia-Organisation der Welt gemacht.
Peppe war unsicher, wie er sich verhalten sollte. Vielleicht irrte er sich ja auch. Also entschloss er sich, den auf einem Rollstuhl hereingeschobenen Patienten vorerst nicht dazu zu befragen, und fing mit den routinemäßigen Untersuchungen an. Pasquale, der Name stand auf dem Aufnahmeformular der Klinik, machte auf ihn rein äußerlich einen anständigen Eindruck. Und überhaupt, dachte sich Peppe, wenn er wirklich ein flüchtiger Straftäter ist, wäre er nicht so einfach in die Klinik gekommen, einen der medizinischen Spitzenbetriebe in der
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