Mafiatochter
meinen Vater in der Küche an. »Ich muss dir etwas beichten«, sagte ich. »Jackie und ich haben heute Kleider aus einem Spind gestohlen, und das Mädchen kam zu Jackie nach Hause und sah, wie Jackie sie trug. Sie hat es dem Rektor erzählt, und jetzt bekommen wir wahrscheinlich Ärger.«
»Und was willst du nun machen?«, wollte mein Vater wissen.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich habe aber Angst, dass ich von der Schule fliege.« Ich dachte, die Antwort auf die Frage meines Vaters hätte eigentlich lauten sollen: »Die Wahrheit sagen«. Ich wollte aber nicht die Wahrheit sagen, obwohl ich fand, dass es die richtige Antwort gewesen wäre. »Ich weiß nicht«, war daher alles, was mir einfiel.
»Also, du machst folgendes«, instruierte mich Papa. »Du sagst: › Ich weiß nicht, wie die Kleider hierher kommen. ‹ Dann trägst du die Konsequenzen, welcher Art sie auch immer sein mögen.« Wenn ich meine Rolle zugab, gestand ich damit auch Jackies Schuld ein.
»Ich bekomme also keinen Ärger?«, fragte ich.
»Doch, du bekommst Ärger, weil du gestohlen hast, allerdings nur mit mir. Wir zwei werden das miteinander ausmachen.«
Mein Vater befahl mir, wieder in die Schule zu gehen. Als mich der Rektor nach den Kleidern fragte, sagte ich, ich wisse von nichts. Ich bekam eine Woche lang Schularrest. Ich musste im Büro des Dekans sitzen und dort meine Hausaufgaben machen. Jackie und ich mussten uns bei Lisa entschuldigen und ihr die Kleider zurückgeben.
Die Strafe meines Vaters für mich bestand darin, dass ich all seine Kleider waschen und bügeln musste. Dazu kamen eine Woche lang noch verschiedene Pflichten im Haus. Die Lektion, die ich daraus lernte, war, dass man für seine Taten geradestehen muss. Ganz gleich, was die Folgen waren – man durfte niemanden verpetzen.
Ich schlich mich gerne nachts aus dem Haus. Als Papa das Haus an der Lamberts Lane umbaute, gab er Gerard und mir die beiden Zimmer ganz oben an der Treppe. Wenn man das Haus betrat, ging man direkt auf die Treppe zu. Oben lag Gerards Zimmer auf der linken Seite, rechts war mein Zimmer. Ich hatte mein eigenes Badezimmer und meinen eigenen Wohnbereich, sodass mich viele Freunde gern zu Hause besuchten. Oben waren wir für uns, und das war Papas Trick, damit wir in der Nähe blieben. Sein eigenes Schlafzimmer lag im Erdgeschoss.
Die Tatsache, dass sich sein Zimmer am Fuße der Treppe befand, machte uns jedoch nichts aus. Wir gingen in mein Bad, öffneten das Fenster und kletterten hinaus. Dann gingen wir vorsichtig über das Dach im ersten Stock, unter dem auch die Küche lag. Manchmal hielten sich Papa, Mama oder beide dort auf, sodass wir sehr leise sein mussten. Das Dach war ziemlich lang, doch schließlich erreichten wir das Ende. Der Absprungpunkt war in der Nähe unseres Wintergartens, dessen große Glastüren sich zum Hinterhof und zum Swimmingpool öffneten. In der Regel spielte es keine Rolle, dass alles verglast war, weil meine Eltern den Raum abends nicht nutzten. Meist waren sie in ihrem Schlafzimmer und sahen fern. Außerdem hatte Papa sämtliche Decken und Sparren so gut isoliert, dass dies der beste Fluchtweg der Welt war.
Wenn meine Eltern noch wach waren, kletterten wir hinunter auf den Zaun und sprangen von dort in den Hof der Nachbarn. Wenn sie schon schliefen, sprangen wir einfach in unseren Hof und stahlen uns aus der Seitentür hinaus auf den Bürgersteig. Wir gingen hinüber zum Schulhof der P.S. 60, wo ein paar angehende Kleinganoven und Schläger herumlungerten. Dort war immer etwas los. Die Jugendlichen klauten Autos oder prügelten sich. Das war der Ort, wo sich alle Springville-Boys von Staten Island trafen. Die Springville-Boys galten als die Möchtegern-Gangster unter den Teenagern von Staten Island, und sie machten diesem Ruf alle Ehre.
Sie waren ein bisschen wie die Rampers, Papas erste Bande in Brooklyn, doch wesentlich zahlreicher. Sie stammten aus den Vierteln Bulls Head und Springville auf Staten Island und versuchten, sich auf der Straße einen Namen zu machen, in der Hoffnung, eines Tages die Aufmerksamkeit eines »gemachten« Mitglieds einer Mafiafamilie zu erregen. Eigentlich wollten sie dieses Leben aber gar nicht führen, sondern selbstständig bleiben.
Sie sollten jedoch schon bald feststellen, dass sie den Kodex einhalten mussten, wenn sie weiterhin die Straßen unsicher machen wollten. Der Unterschied zwischen meinem Vater und ihnen war, dass die meisten gar nicht richtig begriffen, wofür die
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