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Magazine of Fantasy and Science Fiction 09 - Die Kristallwelt

Magazine of Fantasy and Science Fiction 09 - Die Kristallwelt

Titel: Magazine of Fantasy and Science Fiction 09 - Die Kristallwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.A.
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Allmächtigen, und ich deutete ihm meine Dankbarkeit an. Aber er lächelte nur zweideutig.
    Warum er zurückgekehrt war, wagte ich nicht zu überlegen. Seine Kirche war von allen Seiten von den Kristallgittern umgeben, als hätte ein gewaltiger Eisschlund sie verschluckt.
    Eines Morgens fand er eine blinde Schlange, deren Augen in große Juwelen verwandelt waren und die zögernd an der Tür zur Sakristei nach einem Fluchtweg suchte. Er trug sie in den Händen zum Altar. Mit einem wehmütigen Lächeln beobachtete er, wie ihr Augenlicht zurückkehrte und wie sie dann geräuschlos zwischen den Kirchenstühlen verschwand.
    Eines Morgens wachte ich auf und fand ihn am Altar, wo er ganz allein das Abendmahl einnahm. Zuerst schien er ein wenig verlegen, aber beim Frühstück erklärte er: »Wahrscheinlich wundern Sie sich über meine Handlungsweise, aber es schien mir ein geeigneter Augenblick, die Gültigkeit des Heiligen Sakraments zu erproben.«
    Er deutete auf die bunten Farbbänder, die durch die gefleckten Glasfenster hereinfielen, die darauf dargestellten biblischen Szenen waren in Gemälde von überwältigender, abstrakter Schönheit verwandelt worden. »Es mag vielleicht ketzerisch klingen, aber der Körper von Christus ist hier bei uns, überall – in jedem Prisma und in jedem Regenbogen, in den tausend Gesichtern der Sonne.« Er hob die schmale Hand, die durch das Licht in allen Farben schillerte. »Sehen Sie, ich fürchte, daß die Kirche, wie auch ihre Symbole –« hierbei deutete er auf das Kreuz, »– ihre Funktion verloren haben.«
    Ich suchte nach einer Antwort. »Es tut mir leid. Wenn Sie vielleicht von hier fort ...«
    »Nein!« rief er entsetzt. »Verstellen Sie denn nicht? Ich war früher ein Abtrünniger – ich wußte, daß Gott existierte, aber ich konnte mich ihm nicht beugen. Und jetzt?« Er lachte voller Bitterkeit. »Jetzt haben die Ereignisse mich überrollt.«
    Er deutete mir an, ihm das Kirchenschiff entlang zu folgen, hinaus zu dem offenen Portal, dort wies er auf die domartigen Gitter aus Kristallstrahlen, die vom Rand des Waldes wie die Strebepfeiler einer gewaltigen Kuppel aus Diamanten und Glas in den Himmel ragten. An verschiedenen Stellen waren die fast regungslosen Formen von Vögeln mit ausgestreckten Flügeln eingebettet, Goldamseln und bunte Sumpfvögel, die im hellen Licht glitzerten. Bänder flüssiger Farbe durchzogen den Wald, Spiegelungen des schmelzenden Gefieders umgaben uns mit endlosen konzentrischen Mustern. Die ineinander übergreifenden Bögen hingen in der Luft wie die Votivfenster einer Kathedrale. Überall um uns herum konnte ich zahllose kleinere Vögel sehen, Schmetterlinge und Insekten, die ihr Teil zu der Krönung des Waldes beitrugen.
    Er ergriff meinen Arm. »Hier im Wald ist alles verwandelt und erleuchtet, vereint in der letzten Verbindung von Zeit und Raum.«
    Erst zuletzt, als wir nebeneinander mit dem Rücken zum Altar standen, als sich das Seitenschiff in einen Tunnel aus Glaspfeilern verwandelte, schien ihn seine Überzeugung zu verlassen. Fast mit einem Ausdruck von Panik beobachtete er, wie sich die Tasten der Orgel allmählich mit Kristalleis überzogen, und ich wußte, daß er in diesem Augenblick an Flucht dachte.
    Dann aber faßte er sich wieder, er nahm das Kreuz vom Altar und legte es mir in die Arme; mit plötzlich aufsteigendem Zorn, der aus der absoluten Gewißheit geboren war, zog er mich rauh zum Portal und schob mich auf eines der sich immer mehr verengenden Gewölbe zu.
    »Gehen Sie! Machen Sie, daß Sie von hier fortkommen! Schlagen Sie sich zum Fluß durch!« Als ich zögerte, das schwere Kreuz in den Armen, rief er wütend: »Sagen Sie ihnen, daß ich Ihnen befohlen habe, es mitzunehmen!«
    Als ich ihn zum letztenmal sah, stand er mit ausgestreckten Armen vor den sich nähernden Wänden; in seinen Augen standen Erleichterung und Verwunderung über die leuchtenden Strahlen, die von seinen erhobenen Händen fielen.
     
    *
     
    Das schwere Kreuz mit den Armen umklammernd, kämpfte ich mich zum Fluß durch, meine wankende Gestalt spiegelte sich in den Zweigen der Bäume wider.
    Ich hielt mich noch immer schützend hinter dem Kreuz, als ich Captain Shelleys Sommerhaus erreichte. Die Tür stand offen, und ich blickte nieder auf das Bett inmitten eines gewaltigen Kristallpalastes, in dessen frostigen Tiefen, wie Schlafende auf dem Grunde eines Sees, Emerelda und ihr Mann nebeneinander lagen. Die Augen des Captains waren geschlossen, und die

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