Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Barfußlaufen.»
«Richtig, und wen noch?» Nachdem sich niemand meldete, erklärte ich ihnen, dass man die ganze Haut zum Fühlen nehmen kann. «Ihr habt zwei Quadratmeter Haut.»
«Nee, das kann nicht sein.»
«Na, dann wickel sie mal ab, jeden einzelnen Finger. Der Versuch lohnt sich.»
Später habe ich ihnen die Blindenschriftmaschine gezeigt. Den größten Spaß hatten sie mit der Uhr, jeder wollte sie mit einem Pfiff zum Reden zu bringen. «Ein Pfiff aus Tel Aviff», haben wir gegrölt und am Ende mit der sprechenden Waage die Vesperbrote abgewogen.
«Aber Reibekuchen backen kannst du nicht?»
«Doch, kann ich. Man muss den Teig nur ordentlich in die Pfanne geben, von links nach rechts. Stellt euch vor, die Pfanne wäre eine große Uhr. Ein Löffel auf drei Uhr, ein Löffel auf sieben Uhr, ein Löffel auf elf Uhr.»
«Und Grießbrei kochen? Du siehst doch die Klumpen nicht.»
«Du musst den Grieß nur ganz langsam und vorsichtig einstreuen. Haferbrei kochen ist ein bissle einfacher.»
«Aber du kannst kein Verkehrspolizist werden.»
«Richtig.»
«Lehrerin kannste auch nicht werden.»
«Wieso? Das bin ich doch gerade.»
Wir lachten.
Konrad hat es sich nicht nehmen lassen, mich abzuholen, obwohl ich die fünfzig Meter von der Schule bis nach Hause gut allein gehen kann. Es regnete ein wenig. Ich fühlte mich kräftig. «Ich brauche deinen Arm nicht.» Er führte mich am kleinen Finger, so, wie ich es gern habe.
Dass ich so gut durchs Jahr kommen würde, damit konnte ich im Januar nicht unbedingt rechnen, nach dem großen Zusammenbruch damals. In der Nacht vom Sechsten auf den Siebten träumte ich, mein Bett stünde in Richtung Fenster, und ich sah den Himmel draußen, tiefblau, und auch die Wände im Zimmer waren blau, und ich dachte, ich sterbe. Jetzt ist es so weit, ich sterbe! Ich bin im Krankenhaus aufgewacht, an Schläuchen und verschiedenen fiependen und schnaufenden Apparaten. Ich bräuchte eine neue Herzklappe, sagten die Ärzte, ein wenig Zeit hätte ich allerdings noch. «Vielleicht, wenn Sie Glück haben. Sie sollten sich erholen, Frau Weingartner. Ende Oktober haben wir einen Termin für Sie.»
Zehn Monate. Beinahe vier Jahreszeiten im Garten, das ist nicht viel, aber auch nicht so wenig, dachte ich. Würden sie auch reichen, die Wege meines Lebens noch einmal abzugehen und meine Geschichte zu erzählen?
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Nachwort von Ulla Lachauer
Magdalena Weingartner, geborene Eglin, heißt im wirklichen Leben anders. Den letzten Schritt, ihren Namen zu nennen, wollte sie, bei allem Mut, sich zu zeigen, dann doch nicht tun. Ihr Mann heißt nicht Konrad, ihr Sohn nicht Lukas, die meisten Personennamen in dem Buch sind Pseudonyme. Auch einige Ortsnamen wurden verändert, zum Teil sind sie erfunden – Tonberg im Schwarzwald und Sonnenmatt, den langjährigen und heutigen Wohnort, gibt es nicht, ebenso wenig Märlingen. Nur Magdalenas Heimatstadt Freiburg und Marburg mit seiner Blindenschule tragen keine Tarnkappe.
Ich schreibe dies im Dachstübchen des Weingartner’schen Hauses, an einem winzigen Tisch, vis-à-vis ein niedriges Bücherregal, aus dem ich mir in den letzten zwei Jahren immer mal wieder eine Nachtlektüre gefischt habe, Maupassant, Tschechow, alte Hefte von «Reader’s Digest». Auf dem Regal steht eine hölzerne Gans mit vorgerecktem Hals und roten Rädern, ihr rechter Flügel ist abgebrochen – ein Spielzeug, das Magdalenas Vater Johann Eglin 1943 aus Russland mitgebracht hat. Wie immer im März riecht es streng-würzig nach Tomaten, das Gästezimmer ist die Kinderstube der Setzlinge. Und wie immer, wenn ich hier ankomme, habe ich das Gefühl, aus meiner eigenen Welt herauszufallen, eine Zone zu betreten, in der das Leben langsamer läuft, anders gedacht, vielleicht auch anders geträumt wird.
Magdalena Weingartner ist eine Erzählerin – das zuallererst hat mich angezogen, ihre Freude und ihr gewaltiger, manchmal auch unheimlicher Drang, zu erzählen. Menschen erzählen, weil es ihr Naturell ist, aus Vergnügen an der Sprache, aus Eitelkeit, Rachsucht, um Rechenschaft abzulegen und Denkmäler zu schaffen, sie erzählen, um böse Kränkungen zu überwinden, um die Welt anzuklagen oder sie zu erlösen, aus Langeweile, weil die Tage sonst stumpfsinnig und trostlos wären. Erzählen ist eine Hommage an das Leben und eine bewährte Methode, dem Tod davonzulaufen, und vieles, vieles mehr. Fast alles, glaube ich, kann man bei Magdalena Weingartner finden.
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